Heimische IndustrieStirbt der Schweizer Fabrikarbeiter bald aus?
Entlassungen, Kurzarbeit, Abwanderung: Zuletzt überhäufen sich Hiobsbotschaften aus der Schweizer Industrie. Wie schlimm steht es wirklich um sie? Experten ordnen ein.
Industrie: Darum gehts
Stahl Gerlafingen setzt nach einer grossen Entlassungsrunde (120 Personen) alle übrigen 500 Mitarbeiter auf Kurzarbeit.
Es ist nur das jüngste Beispiel, das zeigt, dass der sekundäre Schweizer Wirtschaftssektor allmählich verschwindet. Oder doch nicht?
Wie schlimm steht wirklich um die Schweizer Industrie? Und was steckt hinter der Entwicklung? Experten ordnen ein.
120 Entlassungen im Stahlwerk Gerlafingen, 500 Mitarbeiter in der Kurzarbeit: Die finanzielle Schieflage des traditionellen Schweizer Industrieunternehmens ist der prominenteste Fall der nationalen Industrie, die immer mehr zu verschwinden scheint. Der drohende Konkurs des Berner Operationstisch-Herstellers Schaerer Medical, massive Kursverluste bei Swiss Steel oder der Thurgauer Zugbauer Stadler Rail, der seine eben eingesackten Grossaufträge in Spanien produziert, ergänzen das Bild.
Fakt ist: Der Anteil der Industrie im Verhältnis zum Dienstleistungssektor nimmt relativ ab, immer weniger Menschen arbeiten in Industriebetrieben. Während Politiker von links und rechts nun entsprechend Massnahmen zur Erhaltung der Schweizer Industrie fordern, stellt sich heuer die Frage, wie schlimm es um den zweiten Wirtschaftssektor der Nation wirklich steht. Dafür hat 20 Minuten bei Experten nachgefragt – hier gibts die wichtigsten Antworten.
Findet in der Schweiz eine Deindustrialisierung statt?
Nicht wirklich. Nach George Sheldon, emeritierter Arbeitsmarkt- und Industrieökonomie an der Universität Basel, sei in den hochentwickelten Industrienationen zwar seit den 1970er-Jahren eine Deindustrialisierung im Gange. Dies mit signifikantem Verlust der industriellen Substanz sei etwa in Grossbritannien der Fall gewesen, in der Schweiz weniger.
Weshalb braucht es denn immer weniger Arbeitskräfte in der Industrie?
Für Thomas Friedli, BWL-Professor an der Universität St. Gallen, ist klar: «Ein Hauptgrund für den relativen Rückgang des Anteils sind die ständigen Produktivitätssteigerungen in der Industrie.» Heisst: Gleiches Ergebnis wird dank besserer Infrastruktur mit noch weniger menschlicher Arbeitsleistung erzielt – in kürzerer Zeit. Eine ähnliche Entwicklung sei auch im primären Sektor der Landwirtschaft zu beobachten, ergänzt Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann von der Universität Zürich. Grundsätzlich sei dies ja erfreulich: «Es sind ja unattraktive Jobs, die es nicht mehr braucht, und nicht die Arbeiter.» Viele kriegten schliesslich einfach eine neue Aufgabe.
Wieso braucht es denn überhaupt Industrie in der Schweiz?
Die Industrie biete Beschäftigungsmöglichkeiten über alle Qualifikationsstufen hinweg, erklärt Friedli: «Das macht sie so wichtig für die Gesamtgesellschaft.» Sheldon erklärt derweil, dass Industrie wichtig sei, um Maschinen herzustellen, um als Nation nicht nur Dienstleistungen zu produzieren. Nun würden einfach gewerblich-industrielle Tätigkeiten durch anspruchsvollere Tätigkeiten ersetzt, während die Maschinen vermehrt im Ausland hergestellt werden.
Welche Faktoren treiben diese Entwicklung eigentlich an?
Für exportierende Unternehmen, bei denen gewerblich-industrielle Tätigkeiten im Fokus liegen, leiden besonders unter der Frankenstärke, wie Friedli erklärt. Und weniger die Energiepreise, wie immer wieder proklamiert wird. Auch die Industrialisierung bislang weniger entwickelter Länder wie etwa von China sei ein wichtiger Faktor, so Sheldon.
Keine Deindustrialisierung, aber Entlassungen: Was soll die Politik dagegen unternehmen?
Während Sheldon die Firmen («spezialisieren und hohe Qualitätsanforderungen erfüllen») und nicht den Staat in die Pflicht nimmt, erklärt Friedli: «Die Schweiz kennt mit wenigen Ausnahmen keine Industriepolitik.» Heisst: Eingriffe in die Wirtschaft zur Rettung von Unternehmen sind selten. Straumann: «Man muss hier den Einzelfall prüfen, ob die Firmen in dem Sinn relevant für die Nation sind, wie etwa 2008 bei der UBS.»
Arbeitest du im Industriesektor?
Wird die Entwicklung so weitergehen?
Die Arbeitsteilung werde weiter internationalisiert, so Sheldon. Heisst: «Immer mehr einfache, repetitive Tätigkeiten in der Produktion wandern in Niedriglohnländer ab und lassen einen wachsenden Anteil an anspruchsvolleren Beschäftigungen zurück, die höhere Qualifikationen erfordern.» Das sei grundsätzlich ein Vorteil für eine hochentwickelte Industrienation wie der Schweiz.
Begeben wir uns so nicht in eine gefährliche Abhängigkeit?
Straumann: «Die Globalisierung verstärkt die gegenseitige Abhängigkeit.» Dadurch werde das ganze System verwundbarer. Kriege können enorme negative wirtschaftliche Auswirkungen haben. Trotzdem sei die Globalisierung im Ganzen eine gute Sache, so Straumann. «Sie bietet viele Chancen, auch den ärmeren Ländern. Die Befreiung Chinas aus der Armut wäre ohne Globalisierung undenkbar gewesen.»
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