Luftpiraterie - «Grössenwahnsinnig»? So tickt Alexander Lukaschenko

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Luftpiraterie«Grössenwahnsinnig»? So tickt Alexander Lukaschenko

Der «letzte Diktator Europas» erzwingt die Landung eines irischen Passagierflugzeugs, um einen Oppositionellen zu verhaften. Was für eine Denke und für ein Selbstverständnis dahinterstecken.

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Die Bilder aus der Hauptstadt Minsk sehen im September 2020 …
… oder am 17. Oktober 1999 nicht anders aus: Präsident Alexander Lukaschenko regiert Belarus seit 27 Jahren mit eisernen Hand.
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Jetzt hat der Langzeitmachthaber mit der erzwungenen Landung einer Ryanair-Maschine in Minsk und der Festnahme eines kritischen Bloggers international für Entrüstung gesorgt. Die EU hat bereits neue Sanktionen verhängt.
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Die Bilder aus der Hauptstadt Minsk sehen im September 2020 …

via REUTERS

Darum gehts

  • Alexander Lukaschenko ist seit 27 Jahren in Belarus an der Macht.

  • Um einen Kritiker verhaften zu können, liess er jetzt ein ziviles Flugzeug zwangslanden.

  • Lukaschenkos Biografie gibt Einblicke in das Selbstverständnis des «letzten Diktators Europas», der seit Jahrzehnten unter einer schweren Persönlichkeitsstörung leiden soll.

Weltweit ist die Entrüstung gross nach der erzwungenen Landung der Ryan-Air-Maschine Flug FR4978 und der folgenden Festnahme des Journalisten und Aktivisten Roman Protassewitsch (26). Belarus’ Präsident Alexander Lukaschenko «hat offenbar alle Hemmungen verloren und denkt nur mehr an Rache und Machterhalt», schreibt etwa die liberale slowakische Tageszeitung «Dennik N».

Anderer Kommentatoren sprechen von «Grössenwahn» und davon, dass «Lukaschenko, der an die regionalen Machthaber der Sowjetära erinnert, in den 27 Jahren seiner Herrschaft immer repressiver und autokratischer geworden ist».

Schwere Persönlichkeitsstörung?

Dieses Verhalten lässt sich teilweise auch mit Lukaschenkos Biografie erklären. Er sei das «Schmuddelkind des Dorfes gewesen», das sich nach vielen Erniedrigungen vorgenommen habe, «es allen zu zeigen», so ein mit Lukaschenko befreundeter Schriftsteller. «Und genau das tut er jetzt».

Auch hatte Lukaschenko schon als als junger Mann gelernt, die sowjetische Staatsideologie zu verteidigen und dafür alle Mittel einzusetzen. «Sascha» schien eine solide Karriere vor sich zu haben: Nach dem Studium der Geschichte und der Landwirtschaft arbeitete er zunächst als politischer Instrukteur für den sowjetischen Geheimdienstes KGB, dann als Polit-Kommissar bei der Roten Armee – bis er vorzeitig entlassen wurde, «wegen Wahnvorstellungen».

Später wurde bekannt, dass bei Lukaschenko bereits 1976 eine schwere Persönlichkeitsstörung dia­gnostiziert worden war, was Militärpsychiater 1982 offenbar erneut bestätigten.

«Schlachten bringe ich nicht über mich»

So stieg Lukaschenko voll in die Politik ein. Er gab sich als Kämpfer gegen Korruption, was ihn populär und 1994 zum ersten Präsidenten der Republik Belarus machte. Lukaschenko gewann damals im Übrigen mit 80,1 Prozent – derselbe Stimmenanteil, den er 26 Jahre später wieder für sich reklamierte.

Seither baute «Batka» (Väterchen) Lukaschenko seine Macht auf Strukturen auf, die er aus der sowjetische Vergangenheit kannte: eine fast durchgehend staatlich kontrollierte Wirtschaft, Unterdrückung von Opposition und freien Medien und viele weiterer Repressionen. Zeitgleich liess er 2004 per Verfassung seine Präsidentschaft auf Lebenszeit verlängern und stattete sich mit diktatorischen Vollmachten, wie dem Recht auf Parlamentsauflösung, aus.

Und auch wenn Lukaschenko öffentlich erklärte: «Kaninchen zu schlachten, bringe ich nicht über mich» – Lukaschenko regierte zunehmend autoritär. Das zeigte sich in aller Deutlichkeit letzten Sommer, als wegen der Proteste gegen seinen erneuten «Erdrutschsieg» Tausende Demonstrierende gefoltert, Oppositionelle eingesperrt oder ins Ausland vertrieben und eine Verfolgungswelle gegen die Medien lanciert wurden.

Selbstverständnis eines Sowjet-Nostalgikers

Auch hinter der faktischen Flugzeugentführung und Verhaftung eines Kritikers zeigt sich das Selbstverständnis eines Sowjet-Nostalgikers. «Das Signal, das Präsident Alexander Lukaschenkos Regime aussenden wollte, ist eindeutig», schreibt etwa die NZZ. «Egal, wo sich seine Gegner befinden, sie können sich nirgends mehr sicher fühlen, auch nicht in einem Flugzeug, das zwischen zwei EU-Staaten verkehrt».

So machte der Mann, der einst mit Blick auf sein Land sagte: «Was man liebt, gibt man nicht her», auch klar: Mit ihm wird es keinen Dialog mit der Opposition geben, im Gegenteil: im Kampf gegen sie sind Lukaschenko und seine Apparatschiks zum Äussersten bereit.

Sie wissen dabei, dass sie dabei von einer russischen Führung unterstützt werden, die demokratische Bestrebungen im In- und angrenzenden Ausland ebenfalls unterbindet. In den Augen Lukaschenkos dürfte der Umgang Russlands mit den eigenen Regimekritikern, die man vergiften und ins Lager schicken kann, die beispiellose Festsetzung des 26-jährigen Oppositionellen Protassewitsch allemal legitimieren.

EU kappt Flugverkehr mit Belarus

Nach der international scharf verurteilten Festnahme des Regierungskritikers Roman Protassewitsch steigt der Druck auf Belarus: Die EU-Staats- und Regierungschefs vereinbarten bei ihrem Gipfel am Montagabend die Sperrung des Luftraums für Flugzeuge aus Belarus sowie ein Landeverbot auf EU-Flughäfen. Durch die am Montagabend vereinbarten EU-Sanktionen soll das autoritär regierte Belarus vom europäischen Luftverkehr abgeschnitten werden.

Zahlreiche Fluggesellschaften, darunter die Lufthansa, Air France, KLM, SAS und AirBaltic, wollen den belarussischen Luftraum nun bis auf Weiteres meiden. Die Ukraine entschied, den Flugverkehr mit dem Nachbarland einzustellen.

Die Staats- und Regierungschefs der EU hätten «zusätzliche Sanktionen gegen Einzelpersonen beschlossen, die an dieser Entführung beteiligt waren», sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Auch Unternehmen, «die dieses Regime finanzieren», sollten sanktioniert werden können.

Die belarussische Regierung lud derweil internationale Luftfahrtexperten zu einer Untersuchung der erzwungenen Landung des Ryanair-Flugzeugs in Minsk ein. Vertreter der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO), des Internationalen Luftfahrtverbands (IATA) sowie Experten der EU und der US-Behörden sollten die «Umstände» der Ereignisse vom Sonntag prüfen, teilte das Verkehrsministerium mit.

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