Mindestlohn«Heute gibt es mehr arme Familien als in den 60ern»
Trotz wachsendem Reichtum: Der Anteil armer Familien in der Schweiz sei gestiegen, sagt Wirtschaftshistoriker Bernard Degen. Das liege auch daran, dass Geld heute wichtiger sei.

«Das Bild vom Mann als alleinigem Ernährer hat nie ganz gestimmt», sagt Wirtschaftshistoriker Bernard Degen.
Heute gibt es Familien, die zu wenig zum Leben verdienen, obwohl beide Elternteile arbeiten. Dagegen soll ein Mindestlohn von 4000 Franken helfen. Täuscht der Eindruck, dass Familien noch vor ein paar Jahrzehnten von einem Gehalt ganz gut leben konnten?
Bernard Degen: Ja, das täuscht. Das Bild vom Mann als alleinigem Ernährer hat nie ganz gestimmt. Reine Hausfrauen gab es nur in gut situierten Familien, in denen der Mann als Lehrer, Unternehmer oder Pfarrer arbeitete. Bei den ärmeren Familien mussten schon immer Mann und Frau Geld verdienen. Gerade in den Schweizer Textilfabriken arbeiteten sehr viele Frauen – zuerst Schweizerinnen, dann Ausländerinnen – bevor diese in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts nach und nach schlossen.
Woher kommt dann das Bild von der traditionellen Familie mit der klaren Rollenteilung von Mann und Frau?
Unser Geschichtsbild wird von jenen geformt, die eine Stimme haben. Das sind die Gebildeten und Gutsituierten – eben diejenigen, deren Frauen zu Hause blieben. Die Arbeiter und ihre Lebenswelt hingegen kommen in den Medien kaum zu Wort. Interessanterweise ist das Bild der Hausfrau aber nicht überall gleich stark verankert: Während es in der Schweiz und in Deutschland das traditionelle Ideal ist, war es in Frankreich schon immer völlig normal, dass die Mütter arbeiten.
Woher kommt dieser Unterschied?
Es erklärt sich wohl damit, dass die bürgerlichen Traditionen in der Schweiz und in Deutschland stärker sind als in Frankreich. Zudem kümmerte sich der Staat dort viel früher um die Betreuung der Kinder und richtete selbst in ländlichen Gegenden Tagesschulen ein.
Wann kam der Einverdienerhaushalt überhaupt auf?
Das hängt vom Einkommen ab. Bei bürgerlichen Berufen war das schon im 19. Jahrhundert der Fall. Bei schweizerischen Arbeitern dauerte es bis nach dem Zweiten Weltkrieg, bei ausländischen Arbeitern hingegen kommt es auch heute kaum vor.
Stimmt der Eindruck, dass es heute mehr Familien gibt, die trotz Doppelverdiener-Einkommen nur knapp genug Geld zum Leben haben?
Ob es heute wirklich mehr Working Poor gibt oder nicht, ist schwierig zu sagen – in der Schweiz fehlen die entsprechenden Statistiken. Und diejenigen, die es gibt, sind verzerrt.
Inwiefern?
Wenn beispielsweise die Frau eines Handwerkers dessen Buchhaltung macht, taucht sie in den Statistiken nicht als Erwerbstätige auf – weil sie keinen Lohn erhält. Das heisst aber nicht, dass sie nicht im Betrieb gearbeitet hätte.
In Ermangelung statistischer Daten – was ist ihre persönliche Einschätzung?
Ich gehe davon aus, dass der Anteil armer Familien seit den 60er Jahren zugenommen hat. Das liegt erstens daran, dass es in den 60er und 70er Jahren einfacher war, einen Job zu kriegen. Der Mangel an Arbeitern war so gross, dass bis in die 70er sogar Rentner und Schüler eingestellt wurden. Das ist heute schwieriger. Zweitens sind bei den Schlechtverdienern die Reallöhne gesunken. Das zeigen zumindest die Daten für die USA; in der Schweiz fehlen die entsprechenden Zahlen. Ich glaube aber, hierzulande ist es ähnlich. Drittens war das Geld früher weniger wichtig.
In welchem Sinne?
Man brauchte nicht für alles Geld: So konnte man zum Beispiel Beeren im Wald sammeln gehen und daraus Konfitüre machen. Aus weggeworfenen Teilen konnte man sich selber ein Velo zusammen basteln. Und die Kinderkleider erhielt man vom Nachbarn.
Das könnten wir ja immer noch so machen.
Heute zählt der Schein mehr als die Funktion. Wenn ein Kind mit geflickten Kleidern zur Schule kommt, wird es sofort zum Aussenseiter. Vielleicht fielen ärmere Familien in den 50er und 60er Jahren auch deshalb weniger auf, weil mehr Leute ärmlich gekleidet waren.
Sind nicht auch die gestiegenen Fixkosten ein Grund, warum Schlechtverdiener Probleme haben, über die Runden zu kommen?
Das spielt sicher auch eine Rolle. Der Verkehr kostet heute viel mehr als in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, als man noch zu Fuss oder mit dem Velo zur Arbeit ging. Auch gereist ist man kaum: Man hatte weder das Geld noch die Ferien dazu. Zudem sind die Ansprüche gestiegen. So heizte man früher beispielsweise nur ein Zimmer und lebte viel enger zusammen.

Bernard Degen ist Wirtschafts- und Sozialhistoriker an der Universität Basel.