Trail-Running-Camp«Hoch, runter, matschig und deshalb so gut»
3000 Höhenmeter und 50 Kilometer Laufdistanz in drei Tagen – warum tun sich Bergläufer so etwas an? Ein (Selbst-)Erfahrungsbericht aus einem speziellen Trainingslager für den Gigathlon.
Dichte Nebelschwaden hängen im Talkessel. Der Boden unter meinen Füssen ist vom Regen aufgeweicht und mehr als einmal sinke ich knöcheltief in den Schlamm ein. Die durchnässten Kleider kleben an meinem Körper. Der Schweiss mischt sich mit dem Regen, der von meinem Kopf rinnt. Das Salz brennt in meinen Augen. Trotz allem renne ich an diesem grauen Junimorgen einen steilen Pfad im Val Sinestra hinauf, als wäre es das Normalste der Welt. Und wenn ich mich so umschaue, ist es das auch – irgendwie.
Zusammen mit 23 weiteren Unentwegten absolviere ich das «Trainingscamp für Trail Running und Berglaufen». Das komplette Wochenende hindurch ist Joggen angesagt – und zwar rund um Scuol. Fast 3000 Höhenmeter und über 50 Kilometer Laufdistanz stehen auf dem Programm. Noch vor wenigen Wochen hätte ich mir das überhaupt nicht vorstellen können. Aber damals wusste ich ja auch noch nicht, dass ich Teil des 20-Minuten-Online-Teams beim Gigathlon sein würde. Seither nimmt das Abenteuer seinen Lauf.
Ich bin dann mal krank
«Ich empfehle euch, auf jeden Fall immer eine gute Portion davon mitzunehmen», erläutert Fränzi Gissler, während fünf Augenpaare sie fragend anblicken. Die Berglauf-Spezialistin steckt ihren Finger in ein kleines Döschen und leckt ihn ab. «Salz - das ist wichtig für den Körper. Ausserdem nehmt ihr dann das Wasser besser auf», sagt die gebürtige Baslerin zu den Umstehenden und reicht das Döschen weiter. Gissler hat als ehemaliges Mitglied der Schweizerischen Triathlon-Nationalmannschaft jahrelange Erfahrung im Spitzensport und ist nun Mitglied des Salomon Trail Running-Teams. Hauptberuflich leitet sie mit ihrem Partner die alpine Sportschule Outdoor Engadin mit der Laufschule Scuol und hat schon zahlreiche Ultramarathons in den Alpen bestritten. Die Teilnehmer hören zu, für Nachfragen sind die meisten des Trail-Running-Kurses in diesem Moment zu schlapp. Allen ergeht es ähnlich wie mir: Nach über 800 zurückgelegten Höhenmetern im Laufschritt ist die Luft wortwörtlich raus. Der Schweiss rinnt mir aus allen Poren. Doch als ich ins Tal hinunter blicke und irgendwo in weiter Ferne die Minihäuschen von Scuol erblicke, bin ich auch ein bisschen stolz.
Dass ich mich an diesem Morgen überhaupt würde aufraffen können, hätte ich noch am Vorabend keinesfalls beschworen. Bereits nach dem ersten Tag war ich überzeugt, dass ich keinen Meter mehr laufen würde. Ausserdem ist das Zimmer im Hotel Traube Üja in Scuol ausgesprochen gemütlich – perfekt für einen chilligen Sonntag. Und so legte ich mir noch vor dem Einschlafen eine gute Ausrede für meine Nichtteilnahme am nächsten Tag parat. Doch seltsamerweise packte mich am Morgen der Ehrgeiz, als ich alle in ihren Laufklamotten beim Frühstück sitzen sah. In Gedanken klopfe ich mir jetzt dafür auf die Schultern. Da blasen die Leiter auch schon wieder zum Aufbruch. Noch schnell einen Schluck Wasser aus meinem Laufrucksack, dann geht es auch schon wieder weiter.
Wir laufen ins Heublumen-Fussbad-Nirvana
«In den Armen und Beinen immer schön locker bleiben», schallt es von vorne. «Nur der Bauch ist angespannt», ermahnt uns die Laufinstruktorin. Tatsächlich sieht bei ihr jeder Schritt federnd aus, ihre Gesichtszüge sind entspannt. Ich bin nicht sicher, was bei mir überwiegt: Neid oder Bewunderung. Egal. Jedenfalls versuche ich es ihr gleichzutun. Natürlich gelingt mir das nicht annähernd. Dennoch geht es mit dem Tipp immerhin wieder etwas leichter. Kleiner Trick, grosse Wirkung. Zumal ich unter Anstrengung schnell immer wieder das Grundlegendste der Praxisübungen vom Vortag vergesse und in alte Komm-jetzt-quäl-dich-halt-da-hoch-Laufmuster verfalle.
Ich höre, wie die quirlige Profiläuferin vorne den Laufkollegen Alex, Andrea und Hans sagt: «Anspannung und Entspannung im stetigen Wechsel – das ist das Nirvana des Laufens.» Leider ist das mit der Entspannung im Moment für mich in weiter Ferne. Meine Waden explodieren fast. Trotzdem: Hinter mir keucht es noch lauter. Das beruhigt mich ein wenig.
Nach etwa einer Stunde erreichen wir Motta Naluns, ein 2146 Meter hohes Aussichtsplateu im Silvrettagebirge. Mittlerweile haben sich die Wolken verzogen, und das Panorama auf die gegenüberliegenden Engadiner Dolomiten ist grandios. Wir legen eine Rast ein. Dabei bleiben meine Augen in der Speisekarte an einem speziellen Angebot hängen: Erfrischendes Fussbad mit Heublumen für 9 Franken. Dann entscheide ich mich aber doch für Apelschorle und ein Stück Kuchen, das ich in einem der fest montierten Liegestühlen geniesse. Und sogar Asco, der ständige Begleiter unserer Trainerin, ein schwarz-weisser Border-Collie, streckt sich in der Sonne aus und geniesst sein persönliches Lauf-Nirvana.
Tourismus-Manager werden zu Trail-Running-Fans
Am Nachmittag nimmt die Anzahl der Wanderer auf den Trails zu. Nicht wenige von ihnen wundern sich bei unserem Anblick. Gelegentlich gibt es Kommentare à la «Was habt ihr denn ausgefressen, dass ihr so rennt?» Dennoch: Jogger sind längst kein ungewöhnlicher Anblick mehr in dieser Region. «Unsere Laufseminare sind meist ausgebucht», berichtet Gissler. «Trail-Running ist immer mehr im Kommen.» Das merke man auch in den Sportgeschäften. «Oft ist Berglauf-Equipment vergriffen und man muss lange auf Nachschub warten – sofern die Hersteller überhaupt mit der Produktion nachkommen.»
Über die neue Klientel freut sich auch die Hotelgastronomie: «Seit zwei, drei Jahren kommen immer mehr Läufer», bestätigt Leonardo Savoldelli, Chef des Hotel Traube in Scuol. Für den Mitfünfziger mit kahlem Kopf und sonnengebräuntem Gesicht sind Aktivurlauber längst zur wichtigsten Einnahmequelle geworden: «Viele der Laufseminarteilnehmer kommen wieder – mit Partner oder mit der Familie.» Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass selbst die Website des Bergdorfs kräftig mit der noch jungen Trendsportart wirbt und gleich acht Trail-Vorschläge liefert.
Swissalpine – und noch ein Glas Rotwein
Die Gefahr, dass das Engadin bald von Asketen und sich mit Läufen in den Alpen selbst kasteienden Freaks überflutet wird, scheint indes nicht zu bestehen. Das zeigt sich beim gemeinsamen Abendessen im Hotel. Das ausgiebige 4-Gang-Menü bietet Gelegenheit, mehr über die Gründe für die Anmeldung zum Seminar der anderen Art zu erfahren: «Ach woisch», legt Andrea aus Tübingen los, «mei ganze Freundinnen hänt auf oimol koi Zeit mehr ghet. Die eine muss schaffe, die andere isch verletzt und die dritt hätt jetzt en Lover.» Kurzerhand hat sie sich ihrem Bekannten angeschlossen und freut sich auf drei Tage intensives Laufen.
Ganz anders Thom aus Basel. Dem Vater zweier Kinder wurde es bei den Strassenmarathons einfach langsam zu eng. So hat er einmal bei einem Berglauf mitgemacht und ist seither viel lieber auf den Trails unterwegs als auf Strassen. Das Gros der Teilnehmer ist zwischen Mitte 30 und Mitte 40 Jahre alt. Viele haben ein konkretes Ziel vor Augen. Zwischen Risotto mit Lamm-Piccata, gedecktem Apfelkuchen aus dem Ofen und noch einem Glas Rotwein fallen immer wieder Schlagworte wie «Swissalpine Marathon», «Mountainman» oder «Zermatt Marathon». Bald nach dem Essen lichten sich die Tischreihen. Alle sind müde und auch der dritte Tag des Seminars wird wohl kein Pappenstiel.
Hängende Brücken und Beine im Schlamm
Am Morgen regnet es. Die Stimmung ist gedämpft. Doch nachdem wir das Val Sinestra erreichen und erst einmal unterwegs sind, ist der Regen bald egal. Wir erreichen eine eindrucksvolle, etwa 100 Meter lange Hängebrücke. «Immer nur zu zweit drüber, sonst wackelt es zu sehr», empfiehlt Gissler. Schwindelfrei muss man dafür schon sein. Es fühlt sich an wie joggen auf dem Trampolin. Unter mir rauscht der Gebirgsbach, der mittlerweile wegen des anhaltenden Regens ordentlich tost. Auf einem abschüssigen Wurzelpfad geht es weiter. Es ist sehr glitschig. Während einer Pause in einer urigen Dorfbeiz entledige ich mich der tropfend nassen Kleider und ziehe mir trockene aus meinem Rucksack an. Die ersten 10 Kilometer des Tages sind geschafft. Zur Belohnung gönne ich mir ein Stück Engadiner Nusstorte. «Etwas Leichtes für zwischendurch», kommentiere ich die kritischen Blicke meiner Mitläufer. Mir ist es egal, heute kann mich nichts mehr erschüttern.
Nach etwa einer Dreiviertelstunde geht es weiter. Der furchtbarste Moment des ganzen Wochenendes steht an: Ich muss die nassen Kleider wieder anziehen, denn es ist wichtig, am Ende des Laufs etwas Trockenes griffbereit zu haben. Das wird uns während des Seminars immer wieder eingetrichtert. Mich fröstelt. Doch nach etwa 10 Minuten legt sich das unangenehme Gefühl. Auch der Regen hört auf und allmählich wärmt die Sonne zusätzlich. Später am Ziel begutachten wir unsere schlammbedeckten Schuhe und Beine. Der Matsch-Lauf hat für allgemein gute Stimmung gesorgt. Gissler fasst das Abenteuer knapp zusammen: «Hoch und runter, quer und schräg, matschig und gerade darum so furchtbar gut. Darum mag ich das Trail Running - es ist gelebte Zeit.» Wir stimmen ihr zu, während wir den Dreck von den Beinen kratzen. Und mittlerweile freue ich mich sogar auf das Abenteuer Gigathlon.
Unser Gigathlon-Team
20 Minuten Online stellt am Gigathlon vom 1.-3. Juli im Wallis ein Team of Five. Annette Hirschberg, Simone Kubli, Antonio Fumagalli, Olaf Kunz - allesamt Mitarbeiter der Online-Redaktion - sowie Leser Marcellino Jansen werden gemeinsam versuchen, die 11 111 Höhenmeter im Wallis zu bezwingen.
Alle fünf Mitglieder des Teams sind Neo-Gigathleten, allerdings mit sportlichem Hintergrund. Die Zielsetzung ist daher bescheiden: Das 20-Minuten-Online-Team will den Gigathlon schlicht und einfach beenden.

Fränzi Gissler
Die diplomierte Geografin war sechs Jahre Mitglied der Dua- und Triathlon-Nationalmannschaft Schweiz. Heute ist die 37-Jährige Mitglied des Salomon Trail-Running-Teams Schweiz und leitet mit ihrem Partner die alpine Sportschule Outdoor Engadin mit der Laufschule Scuol. Gissler arbeitet ausserdem teilzeit als Geografie-/Englischlehrerin und ist Trainerin an der Swiss Olympic Sportschule in Ftan.