Chur West, Teil 2«Ich bin ein Mensch, kein Roboter»
Die Asylgesetzrevision sieht vor, dass Kriegsdienstverweigerer und Deserteure nicht länger als Flüchtlinge gelten. Die Geschichte einer Frau, die keine Soldatin mehr sein wollte und ihr Leben selber in die Hand nahm.
Es gibt unzählige Schicksale von Flüchtlingen aus Eritrea, von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren, die in der Schweiz auf Asyl hoffen. Etwa jenes von Aster, die während des obligatorischen Kriegsdienstes vergewaltigt und schwanger wurde und nicht wusste, ob ihr Peiniger oder ihr Ehemann der Vater des Kindes ist. Oder die Geschichte von Semira, die mit ihrer drei Monate alten Tochter die Flucht antrat, als ihr Mann gefangen genommen wurde. Seit eineinhalb Jahren hat sie nichts von ihm gehört.
Es gibt aber auch die Geschichte von Delina, die seit drei Monaten im Erstaufnahme-Zentrum Foral in Chur lebt. Die 28-Jährige war nicht an Leib und Leben bedroht. Sie sass nicht im Gefängnis, wurde nicht vergewaltigt, gefoltert oder verfolgt. Die ehemalige Soldatin flüchtete, weil sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollte.
«Nicht von einem Gefängnis ins nächste»
Mit 20 Jahren wurde sie in den Kriegsdienst eingezogen, wie jeder andere eritreische Bürger auch. Vier Jahre lang diente sie der Armee, bevor sie sich zur Flucht entschloss. «Stell dir vor, du darfst keine Entscheidung selber treffen. Es wird dir gesagt wann du sitzen, stehen, gehen, essen, schlafen darfst. Aber ich bin kein Roboter. Ich bin ein Mensch.»
In Eritrea können Bürger auf unbestimmte Zeit zum Militärdienst gezwungen werden, was der Uno-Menschenrechtsrat jüngst verurteilte. Amnesty International sprach gar von «Zwangsarbeit» unter dem Regime von Isaia Afewerki. Deserteure würden verfolgt, eingesperrt, gefoltert oder getötet. Inzwischen stellen die Eritreer die grösste Gruppe der Asylsuchenden in der Schweiz dar. Fast 9000 anerkannte Flüchtlinge aus Eritrea lebten 2012 in der Schweiz. Nochmals so viele befanden sich noch im Asylprozess.
Der einzige Ausweg aus dem Militär wäre eine Heirat gewesen, sagt Delina. «Doch ich wollte nicht von einem Gefängnis ins nächste. Ich will mich bilden, frei sein, arbeiten.» Delina desertierte und flüchtete alleine in den Sudan. Ihrer Familie sagte sie kein Wort. 1000 Dollar bezahlte sie einem Schlepper für die Flucht. Pro Monat registriert das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR entlang der sudanesischen Grenze rund tausend Übertritte und nochmals so viele in Äthiopien.
10'000 Dollar für die Schlepper
Drei Jahre lang lebte Delina im Sudan, arbeitete als Kellnerin und hauste in einem kleinen Zimmer mit anderen Flüchtlingen. Doch das erhoffte Leben in Freiheit erfüllte sich nicht. Das Leben «unter der Burka» habe sie nicht ertragen: «Es ist 40 Grad heiss und du trägst den ganzen Tag diese Ganzkörperbedeckung. Ich fühlte mich gefangen.» Als ihr ein Gast kochend heisses Wasser über die Waden schüttete, weil die Burka nicht bis zum Boden reichte, habe sie den Entschluss zur erneuten Flucht gefasst. Diesmal reichten 1000 Dollar nicht. Das Zehnfache habe sie einem «Businessman» für die Organisation und die falschen Papiere bezahlen müssen. Mit dem Flugzeug seien sie gemeinsam nach Italien geflogen. Von dort mit dem Zug in die Schweiz. Das benötigte Fluchtgeld schickten ihr die Schwester, die in Genf lebt und eritreische Bekannte aus Norwegen und Schweden. Skandinavien gilt neben Grossbritannien und der Schweiz als beliebtes Fluchtziel für Eritreer.
Erstmals im Leben fühle sie sich frei und sicher, sagt Delina. Von den Schweizern sei sie stets zuvorkommend und freundlich behandelt worden. Sie empfinde gegenüber diesem Land tiefe Dankbarkeit. Sollte sie Asyl erhalten, will sie in die Westschweiz ziehen, heiraten, eine Familie gründen. «Ich bete zu Gott, dass ich bleiben darf.»
Lesen Sie den ersten Teil der Reportage: «Das Leben im Asylheim – ein Selbstversuch»
Lesen Sie morgen den dritten und letzten Teil der Reportage: Georg Carl, Asylkoordinator des Kantons Graubünden, erzählt im Interview, warum sein Kanton als Vorreiter in Sachen Asylwesen gilt.
Weiterhin Asyl für Eritreer?
Das Schweizer Volk entscheidet am 9. Juni über eine Verschärfung des Asylgesetzes. Teil der Abstimmungsvorlage ist die Abschaffung der Dienstverweigerung als alleiniger Asylgrund. Diese zielt in erster Linie auf die Gesuchsteller aus Eritrea ab. Die Wirksamkeit ist allerdings umstritten. Wenn jemandem im Heimatland Verfolgung oder eine unverhältnismässig hohe Strafe drohe, erhalte er weiterhin Asyl, sagte Bundesrätin Simonetta Sommaruga dazu. Bei Wehrdienstverweigerern aus Eritrea, auf die der Passus gemünzt ist, sei dies der Fall. «Die Massnahme mit den Wehrdienstverweigerern ist tatsächlich fürs Papier», sagte Sommaruga im 20 Minuten-Interview.

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