Die Umfaller-Königin«Ich bin zwar schon älter, aber lernfähig»
Niemand hat mehr Wahlversprechen gebrochen als Magrit Kessler. Im Interview spricht die Grünliberale über Lernprozesse, Parteiräson und ihr Pech mit der Themen-Agenda.
Als Umfaller-Königin des Parlaments weichen Sie am stärksten von Ihren Wahlversprechen ab – haben Sie Ihre Wähler an der Nase herumgeführt?
Margrit Kessler: Nein. Ich wurde in erster Linie als Patientenvertreterin gewählt. In meinen Kernthemen, der Gesundheitspolitik, würde ich kaum von meinen Standpunkten abweichen. Ich hatte halt Pech, dass die wichtigen Gesundheitsvorlagen wie Managed Care oder das Humanforschungsgesetz in der Session vor meiner Wahl im Parlament debattiert wurden.
Wie kamen denn die grossen Abweichungen zustande?
Es gab in den vier Sessionen viele finanz- und wirtschaftspolitische Geschäfte. Das ist nicht mein Spezialgebiet, deshalb lasse ich mich auch mal von unseren parteiinternen Experten zu einem Meinungswechsel bewegen. Es ist ein Geben und Nehmen: Die Partei ist im Gegenzug auch bereit, in meinen Kernthemen auf mich zu hören.
Zum Beispiel?
Bei der IV-Revision 6b konnte ich die Fraktion davon überzeugen, dass es im Moment keine weiteren Sparmassnahmen auf dem Buckel der Behinderten braucht. Darauf bin ich stolz.
Trotzdem: Sie haben in sehr grundsätzlichen Fragen Kehrtwenden vollzogen. So sprachen Sie sich vor der Wahl für die 1:12-Initiative der Juso und die Abschaffung der Pauschalsteuer aus. Im Rat votierten sie dann gegen beide Vorlagen.
Ich kam als Quereinsteigerin in die Politik und habe den Fragebogen ausgefüllt, ohne mich mit allen Themen vertieft auseinanderzusetzen – ich entschied sozusagen aus dem Bauch heraus. Doch viele Vorlagen haben bei näherer Betrachtung ihre Haken. So haben mir unsere Wirtschaftsexperten klargemacht, dass es bei der 1:12-Initiative viele Hintertürchen gäbe, ähnlich wie bei der Abzocker-Initiative. Ich bin zwar schon ein älteres Semester, aber durchaus lernfähig (lacht).
Was ist mit der Pauschalbesteuerung?
Mit dieser habe ich etwas Mühe. Aber ich kann bei der Abstimmung mit der Parteiräson leben. Wir Grünliberale sind im Nationalrat häufig das Zünglein an der Waage. Deshalb schauen wir, dass wir geschlossen abstimmen. Zuvor gibt es in der Fraktion harte Diskussionen. Wenn der Mehrheitsentscheid gegen meine Prinzipien verstösst, kann ich immer noch leer einlegen.
Für das Ranking fiel besonders negativ ins Gewicht, dass Sie sich im Parlament in zwei Abstimmungen gegen die Landschaftsschutzinitiative aussprachen.
Ich halte das neue Raumplanungsgesetz, welches das Parlament als indirekten Gegenvorschlag zur Initiative ausgearbeitet hat, für die bessere Lösung. Das anerkennen ja auch die Initianten mit dem Rückzug des Volksbegehrens.
Würden Sie heute – nach mehr als zwölf Monaten Bundesbern – den Smartvote-Fragebogen anders ausfüllen?
Ja. Ich funktioniere als Nationalrätin anders als früher. Als Pflegefachfrau, umgeben von Leistungserbringern, hatte ich mich vorwiegend mit den Gesundheitskosten auseinandergesetzt. Dank der Überzeugungsarbeit meiner Kolleginnen und Kollegen bin ich wirtschaftsliberaler geworden.
Die Serie
Im Auftrag von 20 Minuten hat Politools ausgewertet, wie genau die Nationalräte ihre Wahlversprechen auf Smartvote bei den Abstimmungen eingehalten haben. In einer kleinen Serie publizieren wir die Ergebnisse.
Lesen Sie in den nächsten Tagen auch, welche Parteien in der Auswertung gut abschneiden und wie die Rangliste aller Nationalräte aussieht.
Die Auswertung
Im Auftrag von 20 Minuten hat die Organisation Politools, welche die Online-Wahlhilfe Smartvote betreibt, das Abstimmungsverhalten der Nationalräte in den ersten vier Sessionen der aktuellen Legislatur ausgewertet und mit den Antworten bei Smartvote verglichen. Politools hat dafür insgesamt 27 Abstimmungen einbezogen, die sich auf 15 Themen bei Smartvote beziehen.
Während die Nationalräte bei Abstimmungen im Rat zwischen einem Ja, einem Nein oder einer Enthaltung wählen können, standen bei Smartvote die Optionen Ja, eher Ja, eher Nein und Nein zur Verfügung. Eine Stimmenthaltung im Rat führte deshalb immer zu einer Differenz. Abstimmungen, bei denen der Nationalrat nicht anwesend war, wurden nicht berücksichtigt. (mdr)