«Ich brauche sofort psychiatrische Hilfe»

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Selbst-Einweisung«Ich brauche sofort psychiatrische Hilfe»

Immer mehr Menschen checken in Notsituationen selbst ins Sanatorium ein. Die psychiatrischen Akutstationen sind teils schon überfüllt.

von
Roland Schäfli

Selbstzuweisungen nehmen zu: Menschen suchen die psychiatrischen Akutstationen in Notsituationen ohne Umwege auf. (Video: Roland Schäfli)

«Ich fühlte mich hier schnell aufgehoben», sagt eine Patientin des Sanatoriums Kilchberg zu 20 Minuten. Sie hat die Akutstation aus eigenem Antrieb aufgesucht. Denn an ihrem 30. Geburtstag wurde ihr bewusst, dass ihre Kindheit – geprägt von Gewalt und Alkoholsucht in der Familie – erst noch aufgearbeitet werden will: «Ich fühlte mich so fertig.» So wie sie fühlen Zahllose in der Schweiz, deren Situation ausweglos erscheint – und die dann den Weg in die Akutstationen der psychiatrischen Einrichtungen finden. Unsere Nachfrage ergibt: In den angefragten Akutstationen nehmen die Selbsteinweisungen zu – die Tendenz ist deutlich.

«Das ist ein allgemeiner Trend», hat Ralf Gebhardt festgestellt, Klinikmanager der Psychiatrischen Dienste Thurgau in Münsterlingen, «die Verweildauern werden kürzer, die Anzahl der Aufnahmen jedoch höher.» Waren es 2009 in einer der bekanntesten psychiatrischen Einrichtungen der Schweiz noch 1468 Austritte bei 46 Tagen Verweildauer, so wurden 2012 1949 Austritte bei 36 Tagen gezählt. Das Aufnahmezentrum hat den expliziten Auftrag, eine niederschwellige psychiatrische Anlaufstelle zu bilden. Rund ein Drittel der Patienten kommt selbst und ohne Einweisung ins Abklärungs- und Aufnahmezentrum. «Die Stigmatisierung Psychiatrie hat in den vergangenen zehn Jahren nachgelassen», sagt der Klinikmanager weiter. «Menschen warten nicht mehr zu, bis gar nichts mehr geht, sondern nehmen früher Hilfe in Anspruch.»

Eine Feststellung, die sich mit den Beobachtungen im Psychiatrischen Zentrum von Appenzell Ausserrhoden deckt. «Ja, die Anzahl hat zugenommen», erklärt Nicole Graf, Leiterin Kommunikation. Oft denken die Betroffenen irrtümlich, sie müssten dazu ins Spital, weshalb sie sich dann doch über ihren Hausarzt anmelden lassen, was dennoch einer Selbsteinweisung gleichkommt.

Die Kantonale Psychiatrische Klinik Wil fördert ausdrücklich die Selbsteinweisung, «im Sinne von Niederschwelligkeit, Selbstverantwortung, Selbstmanagement und Entstigmatisierung», hält Kommunikationsleiter Norbert Löhrer fest. Der Anteil der Selbsteinweisungen beträgt knapp ein Viertel und ist zur Vorperiode stabil geblieben: 2013 waren dies 1400 von 6064 Patienten, im Jahr darauf 1441 von 6315 Patienten. «Seltener ist, dass jemand nur wenige Stunden bleibt, bis die akute Notsituation überstanden scheint», sagt Löhrer. Dennoch: Der Patient kann sich jederzeit von der Klinik verabschieden, ist völlig frei in seiner Entscheidung, ob er die professionelle Hilfe weiterhin in Anspruch nehmen will.

Die Psychiatrische Uniklinik Zürich erhebt die Zahl der Selbsteinweisenden zwar nicht. Aussagekräftig ist jedoch, dass die stationären Fälle in den letzten zwei Jahren zugunsten einer Zunahme in der ambulanten und tagesklinischen Behandlung leicht rückläufig sind (diese Zahl nahm davor deutlich zu). Dies entspricht gemäss Kommunikationsleiterin Zsuzsanna Karsai dem Auftrag «ambulant vor teilstationär vor stationär».

Auslastung sogar über 100 Prozent

Auch im Sanatorium Kilchberg klingelt das Telefon in der Triage häufiger. Wer diese Nummer wählt, hört zuerst die ruhige Stimme von Annika Ferchland. Sie fragt nur kurz nach den Umständen, den Symptomen. Empfiehlt sich die sofortige Anreise, «dann diskutieren wir nicht lange», sagt Ferchland, «sondern lassen schon mal das Zimmer herrichten». Die Auslastung der verfügbaren Betten auf der Akutstation mit 60 Plätzen beläuft sich nach Angaben von Kommunikationsleiterin Jacqueline Baumann dieses Jahr auf 99,4 Prozent. Immer wieder kommt es vor, dass Notbetten aufgestellt werden müssen und sich somit die Auslastung auf über 100 Prozent erhöht. Saisonale Unterschiede spürt die Triage-Abteilung nicht. Das Telefon klingelt während der nebligen Herbstzeit, die man oft für Depressionen mitverantwortlich macht, auch nicht öfter als sonst. Nämlich zwei- bis dreimal am Tag.

Am Tag des Eintritts steht auch eine internistische Untersuchung an. Die Diagnose etwa einer Schilddrüsenfunktionsstörung oder einer Infektionskrankheit könnten Aufschluss über das psychische Krankheitsbild geben. Viele der Patienten erreichen die Akutstation in desolatem Zustand. Denn schwer depressive Menschen kümmern sich kaum noch um sich selbst, vernachlässigen auch die Zahnpflege. Nach der ersten Untersuchung werden während des Aufenthalts regelmässig medizinische Kontrollen vorgenommen.

Gefühle sind nicht so einfach kurierbar

Die Stimme der jungen Frau zittert, sie ringt um Fassung: «Irgendwann ging es einfach nicht mehr.» Dann müsse einem jemand sagen, dass dies «bei so einer Vorgeschichte» nur normal sei. Die Patientin, die seit über fünf Monaten auf Akutstation A lebt und per Mitte November ihren Austritt plant, trägt einen bequemen Trainingsanzug. «Erst die Gespräche mit anderen Patienten haben mir gezeigt, dass die psychische Krankheit eben nicht heilbar ist wie ein Beinbruch. Es geht um Gefühle, nur Gefühle.»

Die Patienten heute sind nicht nur aufgeschlossener den Methoden der Psychiatrie gegenüber – sie sind auch anspruchsvoller. Christine Poppe, Chefärztin Psychotherapie in Kilchberg, ist aufgefallen: «Manche kommen zu einem Vorgespräch, bevor sie sich entschliessen, lassen sich die Behandlung erklären, schauen sich auch das Zimmer an.»

Manche der Selbsteinweisenden kommen kurzentschlossen, andere haben sich den Eintritt lange überlegt, reisen mit Gepäck an, sind auf einen langen Aufenthalt vorbereitet. «Am ersten Tag prasselt so viel auf einen ein», erinnert sich die Patientin an den 10. Juni, den Tag, an dem sie ins Sanatorium einzog. Wie der Eintritt auf der Akutstation abläuft, zeigt der Videobeitrag in nachgestellten Szenen.

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