«Ich habe gelernt, meine Tics zu kontrollieren»

Aktualisiert

Leben mit Tourette«Ich habe gelernt, meine Tics zu kontrollieren»

Lisa leidet am Tourette-Syndrom: Im Interview erzählt die 16-Jährige von ihrer unheilbaren Krankheit und dem langen Weg zum Glück.

von
Berit Gründlers

Hallo Lisa, danke, dass du dich bereit erklärt hast, mit mir über deine psychische Erkrankung zu sprechen. Kannst du mir als Erstes erklären, was du genau hast?

Lisa: Ich leide am Tourette-Syndrom: Vor allem Männer haben diese Krankheit. Ich bin eine der wenigen Frauen. Sie ist unheilbar und fällt vor allem durch Tics auf. Das können Laute sein, aber auch Fluchen oder Tiergeräusche. Dazu kommen motorische Tics wie Zucken oder Krampfen. Ich gebe Quietschgeräusche von mir, verkrampfe die Hände, hüpfe und habe ein Zucken im Nacken. Die Tics kommen jeden Tag in unterschiedlichen Abständen.

Davon merke ich jetzt aber kaum etwas.

Ja, ich habe gelernt, meine Tics zu kontrollieren. Wenn ich mich sehr freue oder nervös bin, dann kann ich sie aber nicht zurückhalten. Wie eben, als wir mit dem Interview begonnen haben (lacht).

Erzählst du mir mehr über die Tics?

Als Kind bin ich gehüpft, habe geklatscht und laute Geräusche von mir gegeben.

Lisas Mutter: So laut, dass wir uns Stirnbänder über die Ohren ziehen mussten, wenn wir ein Brettspiel spielen wollten.

Lisa: Heute spüre ich sehr gut, wenn sich ein Tic aufbaut. Ich fühle dann eine Art Druck zwischen Bauch und Brust.

Wann wurde dir klar, dass da etwas nicht stimmt? Und was waren die Symptome?

Das fing schon sehr früh an. Ich habe als Dreijährige wirklich schlimm geflucht. Meine Mutter konnte sich nicht erklären, wo ich diese Wörter her hatte. Ich schrie viel, biss und kratzte. Die Ärzte dachten, ich hätte ADHS. Mit sieben Jahren gab man mir Ritalin. Das machte alles nur noch schlimmer. Ich musste oft zu Kinderpsychologen. Das war schrecklich und ich fragte meine Mutter: «Warum muss ich dahin? Ich habe doch nichts falsch gemacht?» Erst als sie einen Film über Tourette sah, wurde ihr klar, dass das mein Verhalten erklären könnte. Da war ich allerdings schon zehn.

Frau Kuhn, was ging Ihnen durch den Kopf?

Ich habe erst über vier Monate Tag und Nacht recherchiert. In der Kinderklinik bestätigte sich dann mein Verdacht. Für uns als Familie brach eine Welt zusammen. Ich habe mich gefragt: «Warum mein Kind? Sie hat es doch schon so schwer.» Leider wurde es ab dem Moment der Diagnose nicht besser.

Lisa: Ich wurde in der Schule heftig gemobbt. Andere Kinder schlossen mich aus, ärgerten mich. Ich wurde sogar angegriffen. Auch die Lehrer plagten mich, weil ich mit meinen Tics den Unterricht störte.

Lisas Mutter: Ich sah sie oft schon vom Fenster aus die Strasse hinunterlaufen, hinter ihr ein Mob von Mitschülern, die sie nachäfften und verfolgten. Als ich mich dann entschied, sie mit dem Auto abzuholen, bekam ich Probleme mit der Schule, weil das nicht erlaubt war. Ich musste ihr sogar ein Kissen mitgeben, das sie sich vor den Mund halten musste, um die Lautstärke ihrer Tics zu dämpfen.

Lisa, damals warst du elf Jahre alt, wie bist du mit dem Mobbing umgegangen?

Ich wurde depressiv und begann mich zu ritzen. Ich hatte keine Freunde und wollte mich nur in meinem Zimmer verkriechen. Ich war dann vier Monate in einer stationären Therapie. Das Tourette ist damals erstmals in den Hintergrund gerückt, die Depressionen und Selbstverletzungen mussten dringender behandelt werden.

Wie hat die Diagnose Tourette das Familienleben verändert?

Lisas Mutter: Sie hat alles auf den Kopf gestellt. Wir fühlten uns mit ihrer Krankheit allein gelassen. Die Ärzte sagten nur: «Damit müssen Sie jetzt leben.» Ich hätte mir gewünscht, mich mit anderen Eltern austauschen zu können.

Lisa: Wir fanden eine Selbsthilfegruppe in Olten. Die uns aber nicht weiterhalf. Dann lernte ich einen Mann kennen, der auch an Tourette erkrankt ist. Wir haben uns getroffen und es war das erste Mal, dass ich mit jemandem reden konnte, ohne meine Tics unterdrücken zu müssen. Das war sehr befreiend für mich.

Lisas Mutter: Heute kann ich sagen, dass es zwar immer noch schwer ist, weil ihre Tics vom einen auf den anderen Tag stärker werden können, aber diese schwierige Zeit haben meine Tochter und mich zusammengeschweisst (Mutter und Tochter lächeln sich an). Ich bin sehr stolz auf Lisa, dass sie sich nicht mehr versteckt.

Lisa, wie geht es dir heute?

Viel besser. Ich bin nun in der Sonderschule in Wil. Dort sind Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Schwierigkeiten. Wir haben alle unser Päckchen zu tragen und können uns gegenseitig unterstützen. Dort werden wir auch auf den Einstieg in einen Lehrberuf vorbereitet. Ich habe einen Punkt erreicht, an dem ich sagen kann, dass ich mich glücklich fühle.

Lisa zeigt auf eine Wand in ihrem Zimmer. Dort hat sie zahlreiche Ziele aufgeschrieben. Eines davon ist «Leben geniessen». Hinter jedem dieser Ziele ist mindestens ein Häkchen.

Was macht dich glücklich?

Meine Freunde. An der neuen Schule habe ich endlich welche gefunden. Ausserdem fahre ich sehr gern Rollerblades, das entspannt mich. Ich habe gelernt, dass es sich lohnt, immer wieder aufzustehen. Ich war oft tief am Boden, wenn ich nicht daran geglaubt hätte, dass es irgendwann besser wird, wäre ich heute nicht mehr hier.

Wie hast du das geschafft?

Meine Mutter hat mich in dieser Zeit sehr unterstützt. Am wichtigsten waren und sind aber meine Tiere. Wir haben fünf Katzen, einen Hund und eine Ratte. Sie hören mir immer zu, behalten alles für sich und merken, wenn es mir schlecht geht.

Was möchtest du anderen Kindern oder Jugendlichen raten, die merken, dass sie anders sind?

Gebt nicht auf. Auch wenn es sehr schwer ist, es lohnt sich immer, wieder aufzustehen und dafür zu kämpfen, dass es euch besser geht. Denn das wird es irgendwann.

Lisa hat sich bereit erklärt mit Lesern, die Fragen haben, in Kontakt zu treten. Bitte melden Sie sich dafür an community@20minuten.ch. Wichtig: Formulieren Sie Ihr Anliegen genau. Wir leiten ihr nur Mails weiter, die sich mit dem Thema Tourette oder dem Artikel befassen.

Das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom

ist eine neuropsychische Erkrankung. Das heisst, es gibt sowohl psychische, als auch körperliche Ursachen für die Krankheit. Das spezifischste Symptom sind die Tics, die bei jedem Erkrankten anders aussehen. Als Ursache gilt eine Störung im Gehirn. Dabei geraten Stoffwechselvorgänge aus dem Gleichgewicht, die für Signalübertragungen verantwortlich sind. Diese sind bei Tourette-Erkrankten übermässig aktiv. Die Ticstörungen können weder geheilt noch behandelt werden. Der Einsatz von Psychopharmaka kann aber Linderung verschaffen. Allerdings ist die Behandlung heute noch schwierig, da es sehr wenige Studien zu Tourette gibt.

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