Kampf gegen Kurzsichtigkeit«Ich habe schon –5,25 Dioptrien – mit zwölf»
Die Kurzsichtigkeit beginne bei Kindern immer früher, so Experten. Eine SP-Politikerin will, dass der Bundesrat dem Problem mit einer nationalen Strategie den Kampf ansagt.
Ilija (12) ist Schüler und kommt aus dem Kanton Zürich. Seit er fünf ist, leidet er an Kurzsichtigkeit. Die Dioptrie war damals bei –1,75 auf beiden Augen. Inzwischen ist er bei –4,00 auf einem Auge und auf dem anderen bei –5,25 angelangt. «Heute habe ich am PC zum Beispiel ohne Brille schon Mühe, die Buchstaben zu erkennen», sagt er. Wenn sich Freunde mit ihm im Klassenraum befinden, erkenne er sie lediglich an den Umrissen.
Die Brille schränkt Ilija an verschiedenen Orten im Alltag ein. Etwa beim Sport: «Da kann sie schnell kaputtgehen. Im Skilager ist meine Brille sogar einmal zu Bruch gegangen. Im Schwimmbad kann ich sie gar nicht tragen und sehe dann nichts.» Der Vater gibt für die Kurzsichtigkeit seines Sohnes auch dem Handykonsum die Schuld.
Augen verschlechtern sich früher und schneller
Ilija ist kein Einzelfall: «Wir machen die Erfahrung, dass die Kurzsichtigkeit bei Kindern im Schnitt früher beginnt», sagt Pascal Blaser, Gründer von Myopiacare, einer Beratungsstelle für kurzsichtige Menschen. «Vor 30 Jahren haben Kinder etwa ab einem Alter von elf oder zwölf Jahren eine Brille gebraucht. Heute sehen wir, dass es häufig schon bei der Einschulung Fälle von Kurzsichtigkeit gibt.»
Kinder würden nicht nur früher, sondern auch stärker kurzsichtig: «Je früher die Kurzsichtigkeit bei Kindern auftritt, desto schneller schreitet diese fort und man wird dann im Erwachsenenalter leider stärker kurzsichtig sein.» Das Auge wachse laut Blaser ungefähr bis Anfang 20.
Vorstoss im Parlament eingereicht
Laut Alessandra Sansonetti, Vizepräsidentin der Fachgesellschaft für Augenärzte, ist die zunehmende Kurzsichtigkeit nicht nur genetisch bedingt, sondern hängt auch mit dem Umfeld zusammen: «Kinder sind wegen Schule und Smartphones weniger oft draussen am Tageslicht. Beim Fokus auf das Smartphone wird das Auge angestrengt und wird länglicher.» In der Wachstumsphase eines Kindes gewöhne sich das Auge an diesen Zustand. «Ein kurzsichtiges Auge ist ein zu langes Auge, weil das Bild dann nicht direkt auf der Netzhaut entsteht.»
Dass Kurzsichtigkeit zur eigentlichen Volkskrankheit wird, ruft jetzt die Politik auf den Plan: SP-Nationalrätin Yvonne Feri hat letzte Woche einen Vorstoss im Parlament eingereicht, in dem sie vom Bundesrat fordert, Daten über die Kurzsichtigkeit von Schweizer Kindern erheben zu lassen. Auf Basis des Berichts verlangt die Präsidentin der Stiftung Kinderschutz Schweiz eine nationale Strategie zur Bekämpfung der Kurzsichtigkeit.
«In der Schweiz wird bis heute wenig gegen Kurzsichtigkeit bei Kindern unternommen», sagt Feri. Auch sie macht unter anderem den Medienkonsum für die zunehmende Kurzsichtigkeit verantwortlich: «Kinder müssen wieder viel mehr draussen spielen», sagt die SP-Nationalrätin.
Optiker Alex Ziörjen von IROC Kontaktlinsen ist froh, dass die Politik den Handlungsbedarf erkannt hat: «Wenn Kinder früher und stärker kurzsichtig werden, steigt das Risiko, im Alter Augenkrankheiten zu bekommen, die teilweise bis zum Erblinden führen.» Ausgewachsene Menschen mit einer Kurzsichtigkeit von –5,00 bis –7,00 hätten ein etwa 40-fach höheres Risiko, an Augenkrankheiten wie einer Netzhautablösung zu erkranken.
«Den Augen regelmässig Abwechslung gönnen»
Frau Sansonetti*, was kann man bei Kindern gegen die Kurzsichtigkeit tun?
Ich empfehle, ein Smartphone beim Gebrauch mindestens 30 Zentimeter von den Augen entfernt zu halten. Den Augen von Kindern sollte man regelmässig Abwechslung gönnen. In dieser Zeit kann man zum Beispiel zum Spielen ans Tageslicht gehen und mindestens eine bis zwei Stunden draussen sein, was durch Studien gut belegt ist.
Gibt es Therapien?
Eine mögliche Therapie gegen Kurzsichtigkeit im Kindesalter wären Atropintropfen, die das Wachstum des Auges hemmen und so die Kurzsichtigkeit verzögern können. Für die Kinder ist eine solche Therapie aber anstrengend, weil man muss die Tropfen jeden Tag für mindestens zwei Jahre in die Augen träufeln. Die Therapie wird auch nicht zwingend von den Krankenkassen bezahlt. Auch spezielle Kontaktlinsen könnten das Wachstum der Augen bremsen. Alle diese Therapien sind aber neu und brauchen mehr Zeit, um verbreitet zu sein.
Braucht es einen nationalen Aktionsplan?
Es ist richtig und wichtig, dass Zahlen über kurzsichtige Kinder erhoben werden, um die Entwicklung des Problems im Auge zu behalten. Zudem helfen sicher auch mehr Screenings in Schulen. Dort machen Schulärzte Sehtests mit den Schülern, indem sie ihnen zum Beispiel den Buchstagben E zeigen, der in verschiedene Richtungen schaut. Wenn der Test ungenügend ist, schlägt man den Eltern vor, sich mit einem Augenarzt in Verbindung zu setzen.
*Dr. med. Alessandra Sansonetti ist Vizepräsidentin der Fachgesellschaft für Augenärzte und führt eine Praxis in Carouge GE.
Mehr als die Hälfte wird kurzsichtig
Eine Studie der WHO aus dem Jahr 2015 zeigt, dass derzeit weltweit rund ein Drittel der Weltbevölkerung an Kurzsichtigkeit leiden. Im Jahr 2050 sollten es bereits die Hälfte sein. In Asien sind am meisten Menschen kurzsichtig: Schätzungen für China, Singapur und Taiwan gehen von 80 bis 90 Prozent aller Jugendlichen aus, die von Kurzsichtigkeit betroffen sind. In der Schweiz tragen gemäss einer Studie von Optikschweiz rund 20 Prozent der 15 bis 24-jährigen sowohl Brille als auch Kontaktlinsen.