Fest der Heuchelei«Ich hasse Weihnachten, weil...»
Viele Schweizer mögen keine Weihnachten. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Eine Gemeinsamkeit gibt es allerdings: Das Lied «Last Christmas» stösst auf kollektive Antipathie.
Auf dem Schweizer Forum Depri.ch, das sich mit dem Thema Depression auseinandersetzt, diskutieren User über Weihnachten: «Seit längerer Zeit ist Weihnachten das grauenvollste Fest für mich. Ich hasse es, weil es pure Heuchelei ist. Ich kann auch so jemandem etwas schenken. Ausserdem ist es ein Familien-Fest. Aber was, wenn man alleine und das TV-Programm an diesen Tag scheisse ist?», fragt Zwilling75.
Auch auf anderen sozialen Medien wird über den Feiertag geschimpft: «Für alle, die gegen Weihnachten und das ganze scheinheilige Getue sind» – Unter diesem Motto postet die Facebook-Seite «Anti Weihnachten» Bilder von Kopf über gestellten Weihnachtsbäumen, kommentiert Fotos vom Samichlaus mit «heute schon gekotzt?» und lästert über den Weihnachts-Evergreen «Last Christmas». Die Seite gefällt 617 Personen.
Der Betreiber einer anderen Seite mit demselben Namen hat am 17. Dezember folgenden Satz gepostet: «Noch eine Woche, dann bricht die Hölle los und die Irren rasten völlig aus. Scheinheiliges Getue und ‹Besinnlichkeit› wie auf Knopfdruck. Ich könnte Kotzen.»
«Ein verlogenes Beisammensein»
Ähnlich geht es Jacky Wachter aus Schaffhausen. Sie hasst Weihnachten, weil man die Dekoration und Lichter schon im Oktober in den Geschäften kaufen kann. Bis Heiligabend gehe es dann so lange, dass es einem schon wieder zum Hals heraushänge, wenn es endlich soweit sei, sagt sie.
Auch das Familientreffen und das Geschenke-Überreichen mag sie nicht. «An diesem Abend tauchen viele Verwandte auf, die sich während dem ganzen Jahr nie melden und überhaupt kein Interesse an der Familie haben. Hauptsache Geschenke und gratis essen – das ist ein verlogenes Beisammensein.»
«Kitsch, Stress, Überfluss und Protz»
Hans Lehman aus Zürich hat ein anderes Problem mit dem Feiertag: «Ich hasse Weihnachten, weil ich am 27. Dezember Geburtstag habe – und dann immer Geschenke bekomme mit dem Nachsatz, ‹ist dann für Weihnachten und Geburi zusammen›.» Am Ende bekomme seine Schwester gleichviel zu Weihnachten, wie er zu für beide Feste. «Das ist gemein.»
Florian Beck ist hin und her gerissen: «Weihnachten innerhalb der Familie – besinnlich, gediegen, sich gegenseitig schätzend – finde ich toll.» Die weihnachtliche Massenhysterie, samt Kitsch, Stress, Überfluss und Protz hingegen finde er nicht weniger als zum Kotzen. Weihnachten habe mittlerweile viel vom ursprünglichen Charme verloren, weil das Fest von allen Seiten missbraucht werde. «Ein fadenscheiniges Milliardengeschäft, das man unter diesen Umständen nur als abstossend empfinden kann.»
Alle hassen «Last Christmas»
Das Weihnachtslied von Wham! zieht sich wie ein roter Faden durch die Hasstiraden der Weihnachtsmuffel. Auch Beck kann den Song nicht ausstehen. Er sagt sogar: «Last Christmas ist mit ein Hauptgrund für den Niedergang von Weihnachten.»
Miguel Alvaro De Alba doppelt nach: «Ich hasse Weihachten, weil man spätestens ab Mitte November mit dem uralten Wham!-Song «Last Christmas» terrorisiert wird und viel zu früh Schoko-Weihnachtsmänner und Kollegen zur Konsumgeilheit aufrufen!»
Markus Zumlauf sieht positive und negative Seiten: Er hasst Weihnachten, weil es seiner Meinung nach ein Fest der Heuchelei ist, bei der alles nur isst und hofft, dass es schnell vorbei ist. «Das Schöne an Weihnachten ist aber die desperate Stimmung in den Bars, wo sich die guten Menschen nach getaner Zeremonie dem Festtagsblues hingeben.»
10 bis 20 Prozent mehr Anrufe an Weihnachten
Franco Baumgartner, Geschäftsführer des Schweizerischen Verbandes der Dargebotenen Hand, kennt das Phänomen Festtagsblues sehr gut. Die Weihnachtszeit sei eine emotional stark aufgeladene Zeit, sagt er. Für gesunde und glückliche Menschen sei dies natürlich schön – für Menschen, die in einer schwierigen Situation steckten aber umso schlimmer.
«Während der Weihnachtszeit bekommen wir deshalb auch 10 bis 20 Prozent mehr Anrufe», so Baumgarter. Vor allem drei Themen beschäftigten die Menschen im Dezember. Die fehlende Zugehörigkeit sei ein grosses Problem. «Wer alleine oder aus irgendeinem Grund isoliert ist, fühlt sich in dieser Zeit besonders einsam.»
«Menschen müssen sich verstanden fühlen»
Die Familie sei ein weiterer heikler Punkt. «Viele Menschen sind der Meinung, an Weihnachten müsse alles perfekt und harmonisch sein. Sie haben viel zu hohe Erwartungen und sind schliesslich enttäuscht, wenn es innerhalb der Familie zu Streitigkeiten kommt.» Schliesslich spielten auch Schicksalsschläge und Verluste eine wichtige Rolle. «Menschen, die beispielsweise erst gerade einen Todesfall erlebt oder ihren Job verloren haben, leiden an Weihnachten sehr.»
Ratschläge könne die Dargebotenen Hand in diesen Fällen nicht erteilen, dies sei oft sogar kontraproduktiv. «Wir hören einfach zu, nehmen die Anrufer ernst und versuchen ihnen auf Augenhöhe zu begegnen» Wichtig sei, dass sich diese Menschen verstanden fühlten.