Überlebende zum Zuger Attentat«Ich wartete, dass der Amokläufer mich umbringt»
Am Montag hat der Prozess gegen den Terroristen von Christchurch begonnen. Die heutige Grünen-Nationalrätin Manuela Weichelt-Picard hat das Zuger Attentat von 2001 überlebt. Sie erzählt von Parallelen der Amokläufe und darüber, wie sie das Trauma verarbeitet hat.
Darum gehts
- Seit Montag läuft der Prozess gegen den Christchurch-Attentäter.
- Zum Attentat von Zug 2001 gebe es Parallelen, sagt die heutige Grünen-Nationalrätin Manuela Weichelt-Picard.
- Sie hat den Amoklauf mit 14 Todesopfern überlebt und erzählt im Interview, wie sie das Erlebte verarbeitet hat.
Frau Weichelt-Picard, heute hat der Prozess gegen den Attentäter von Christchurch begonnen. Verfolgen Sie den Prozess?
Ja, einerseits weil es mich an das Attentat in Zug erinnert, wo ich eine der glücklichen Überlebenden bin. Andererseits auch, weil ich einige Bekannte in Neuseeland habe und einen Monat nach dem Christchurch-Attentat einige Monate in Neuseeland lebte und Freunde besuchte. Ich fühlte eine doppelte Betroffenheit.
Gibt es Parallelen zwischen Christchurch und dem Attentat von Zug?
Sicher, an beiden Orten gab es Tote, an beiden Orten hat es Angehörige, die jemanden verloren haben und Überlebende, die psychisch und/oder körperlich verletzt sind. Es ist immer wahnsinnig tragisch, wenn Täter keinen anderen Ausweg mehr finden, ausser andere Leute umzubringen. Für mich wird es nie begreiflich sein, wie man so reagieren kann.
Fühlt man mit den Überlebenden des Christchurch-Attentats mit, wenn man ähnliches erlebt hat?
Ja. Ich mag mich noch gut erinnern, als die Meldung im Radio verkündet wurde. Ich lag gerade bei der Zahnärztin auf dem Sessel. Die Erinnerungen, was in Zug passiert ist, wurden wieder sehr präsent und haben mich länger beschäftigt.
Woran erinnern sie sich noch vom Amoklauf in Zug?
Dass ich sehr lange brauchte, bis ich realisierte, dass es sich um Schüsse handelt. Ich dachte zuerst an Schulsilvester. Mir ist die Zeit wie eine Ewigkeit vorgekommen - dabei dauerte das Attentat nur 2 Minuten und 34 Sekunden. Eindrücklich war, dass es wie eine Spaltung gab zwischen Körper und Geist. Ich hatte keine Angst vor dem Tod. Ich wartete nur darauf, bis ich umgebracht werde. Im Kantonsratssaal herrschte ein riesiges Chaos: Da lagen Stühle am Boden und Menschen quer aufeinander. Verstecken konnte man sich nicht. Der Attentäter stieg auf die Bänke und schoss von dort auf uns hinunter.
Was ging Ihnen in diesen Momenten durch den Kopf?
Ich habe bedauert, dass ich sterben werde, hatte ich doch noch so viele Pläne und wollte gerne weiterleben. Ich dachte an meinen Vater, der knapp drei Jahre vorher starb und überlegte mir, ob wir uns wieder treffen. Ich bin zwar nicht gläubig, aber es gingen mir in diesen wenigen Sekunden unglaublich viele Gedanken durch den Kopf.
Und nach dem Attentat?
Einerseits immer wieder die Frage, wieso durfte ich überleben und andere nicht. Und weshalb bin ich unversehrt und meine Fraktionskollegin so schwer verletzt, dass sie ihr Leben lang im Rollstuhl sitzen muss. Im Kantonsratssaal kannte ich alle sehr gut, ich hatte zu jedem einen persönlichen Bezug.
Wie kann man ein solch traumatisches Erlebnis verarbeiten?
Ich machte viele Monate Traumatherapie. In der Gruppe mit anderen Betroffenen und einzeln. Es brauchte viel Zeit, das Erlebnis aufzuarbeiten und zu akzeptieren, dass es ein Teil meines Lebens ist. Wir wurden in diesem kollektiven Trauma stark von der Zuger Bevölkerung getragen. Nacht für Nacht hat man sich auf dem Landsgemeindeplatz getroffen und Kerzen angezündet. Die riesige Anteilnahme war sehr schön, das hat extrem geholfen. Auch mein Arbeitgeber war unterstützend, konnte ich doch erst nach neun Monaten wieder voll arbeiten.
Der Attentäter von Christchurch lebt noch, der Schütze in Zug, Friedrich Leibacher, richtete sich hingegen selbst. Macht das für Angehörige und Überlebende einen Unterschied?
Ich kann nur für mich sprechen. Für mich war der Täter durch seinen Entscheid, sich umzubringen, kaum ein Thema. Es hat mir die Angst genommen, die Person könnte wieder aktiv werden. Ich war diesbezüglich beruhigt. Der ganze Prozess wie er nun in Christchurch begonnen hat, kann belastend sein, besonders für die Angehörigen und die Überlebenden. Das fiel bei uns alles weg. Ich war froh, hat er sein Leben selber in die Hand genommen.
Hätten Sie Leibacher nach der Tat sehen oder sogar mit ihm sprechen wollen?
Ich habe den Täter nochmals gesehen. Ich versicherte mich, dass er wirklich nicht mehr lebt, bevor ich den Raum verliess. Ein Bedürfnis, danach mit ihm zu sprechen, hatte ich nie.
Wie geht es Ihnen fast zwanzig Jahre nach dem Amoklauf? Was hat sich für Sie verändert?
Als später meine Kinder auf die Welt kamen, war es mir wichtig, dass sie verschiedene Bezugspersonen haben. Weil ich gemerkt habe, dass die Eltern von einer Sekunde auf die andere nicht mehr da sein können.
Glauben Sie, ein Attentat wie in Christchurch oder Zug könnte heute in der Schweiz wieder passieren?
Das ist durchaus möglich. Man hat in der Politik vieles verändert. Die Bewachung ist massiv stärker. Aber wir haben immer noch grosse Menschenansammlungen an Bahnhöfen und Flughäfen. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass es ein Attentat gibt, ist wahrscheinlich höher, als dass wir Luxus-Kampfjets in einem Konflikt einsetzen müssen.
14 Tote, 18 Verletzte
Das Attentat von Zug
Es geschah am 27. September 2001: Friedrich Heinz Leibacher erschiesst 14 Zuger Kantons- und Regierungsräte und verletzt 18 Personen teilweise schwer. Kurz nach 10.30 Uhr hält sein Schwarzer Hyundai vor dem Parlamentsgebäude in der Stadt Zug. Mit einer selbstgefertigten Polizeiweste und mehreren Waffen – darunter einem Sturmgewehr – betritt er das Gebäude. Im Kantonsratssaal angekommen, schiesst er drei Magazine zu je 30 Schuss wahllos in die Menge und zündet im Korridor einen Sprengsatz. Dann richtet er sich mit der Pistole selbst. Zuvor war Leibacher mehrfach als Querulant aufgefallen. In einem Bekennerschreiben schrieb er von einem «Tag des Zornes für die Zuger Mafia».