Russische Überläufer: «Im Krieg gibt es nicht nur Mutige»

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Russische Überläufer«Im Krieg gibt es nicht nur Mutige»

Im schwer umkämpften Donbass macht sich die russische Teilmobilisierung bemerkbar: Gerade hierher kommen jetzt mehr russische Soldaten – auch solche, die sich ergeben.

Von der Front vor Lyman: Soldaten aus den pro-russischen Separatistengebieten ergeben sich am Freitagmorgen. Im Video werden sie gefragt, woher sie kommen. 

Bataillon Dnjpro1

«Wir töten viele von ihnen. Aber sie werden einfach nicht weniger», sagt Artur L.*, Kampfname «Starschena» («Sergeant»). Der Wachtmeister eines Bataillons der ukrainischen Nationalgarde spricht vom aktuellen Nachschub russischer Soldaten im Donbass – einer Region, die mit gut 60’000 Quadratkilometern grösser ist als die gesamte Schweiz, aber nur gut neun Prozent der Ukraine ausmacht.

Die vollständige Eroberung dieses Steinkohle- und Industriegebietes ist eines der wichtigsten Kriegsziele Moskaus. Entsprechend macht sich die verkündete russische Teilmobilisierung hier schon jetzt bemerkbar.

«Sie verstecken sich in den Wäldern oder Dörfern»

Laut Artur steht es um den Kampfeswillen der neuen, mehr schlecht als recht ausgebildeten Soldaten nicht zum Besten. «Es kommt jetzt vermehrt vor, dass wir im Donbass Russen finden, die sich in den Wäldern oder zurückeroberten Dörfern verstecken und ergeben», sagt Artur. «Sie schwenken eine weisse Flagge und haben ihre Waffen abgelegt.»

Dabei gibt es Unterschiede: In der für beide Seiten strategisch wichtigen und derzeit besonders umkämpften Stadt Bachmut sind vor allem die Söldner der berüchtigten Wagner-Gruppe im Einsatz. Diese entsenden derzeit ehemalige russische Häftlinge an die vorderste Front – wobei sich einige von ihnen lieber den ukrainischen Truppen ergeben, bevor sie als Kanonenfutter enden.

«Vor dem Nachschub der russischen Soldaten haben wir grossen Respekt»

Wachtmeister Artur kämpft an der Front vor Lyman, einer für die ukrainische und russische Seite gleichermassen strategisch wichtigen Stadt im Donbass. 
Diese Flugblätter sind im Donbass überall im Umlauf: ukrainische Anweisungen zum «richtigen» Aufgeben an die Adresse der gegnerischen Soldaten. 
Artur zufolge gibt es sogar Fälle, bei denen sich Russen noch in Russland selbst den Ukrainern anschliessen würden. «Sie treten mit uns in Kontakt und liefern Beweise, dass sie auf unserer Seite sind». Wie so vieles im Krieg lässt sich das nicht überprüfen. 
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Wachtmeister Artur kämpft an der Front vor Lyman, einer für die ukrainische und russische Seite gleichermassen strategisch wichtigen Stadt im Donbass. 

20 Minuten/Ann Guenter

Im weiter nordwestlich gelegenen Lyman, ebenfalls schwer umkämpft, sind vor allem pro-russische Separatisten und Tschetschenen im Einsatz. «Sie haben jetzt Verstärkung durch russische Soldaten erhalten», sagt Artur. «Vor diesem Nachschub haben wir grossen Respekt.»

Doch der Nachschub an russischen Soldaten habe auch etwas Positives: «Die Separatisten sind bei Gefangenenaustauschen nichts wert  – die russischen und tschetschenischen Kämpfer dagegen schon, sie sind teuer.» Viele russische Kriegsgefangene würden sich allerdings gegen einen Austausch wehren: «Sie wissen, dass sie daheim als Deserteure und Verräter gelten und ins Gefängnis kommen.»

«Ihr Ticket in ein neues Leben»

Artur zufolge kommt es sogar vor, dass Kriegsgefangene wichtige Informationen weitergeben, sich so freikauften und ukrainischen Freiwilligenverbänden anschliessen würden, um fortan gegen ihre Landleute zu kämpfen. «Es ist ihr Ticket in ein neues Leben.»

Seit Russland die Teilmobilisierung ausgerufen habe, gäbe es sogar Fälle, bei denen sich Russen noch in Russland selbst den Ukrainern anschliessen würden. «Sie treten mit uns in Kontakt und liefern Beweise, dass sie auf unserer Seite sind», sagt Artur.

«Im Krieg gibt es nicht nur Mutige»

«Solche Deals laufen über unseren Nachrichtendienst – sie sind für beide Seiten extrem risikoreich.» Unabhängig lässt sich das alles nicht überprüfen, es könnte auch ein Narrativ ukrainischer Kriegspropaganda sein.

Ergeben sich denn auch ukrainische Soldaten freiwillig den Russen? «Das ist schwer anzunehmen», beantwortet ein Kollege von Artur die Frage. «Im Krieg gibt es nicht nur Mutige.»

20 Minuten in der Ukraine 

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