Ethikerin im Interview«Impfobligatorium tangiert eines der stärksten Menschenrechte»
Ruth Baumann-Hölzle war als Ethikerin bei der Beratung des Epidemiengesetzes dabei. Die Diskussion rund um Impfobligatorien zeige jetzt schwerwiegende Lücken im Gesetz auf.
Darum gehts
Nach Frankreichs Entscheid wird eine Impfpflicht auch in der Schweiz diskutiert.
Ruth Baumann-Hölzle, Leiterin der Stiftung Dialog Ethik, stört sich daran, dass die Frage der Verhältnismässigkeit in der Diskussion nicht gestellt werde.
Sie erklärt im Interview, welches Menschenrecht von einer Impfpflicht tangiert wird, welche Überlegungen dazu angestellt werden müssten, weshalb das nicht getan werde – und was sich in Zukunft ändern müsse.
Frankreichs Entscheid, die Corona-Impfung für das Gesundheitspersonal obligatorisch zu machen, hat hohe Wellen geschlagen. Ruth Baumann-Hölzle, Leiterin der Stiftung Dialog Ethik, spricht im Interview über Menschenrechte, Verhältnismässigkeit und die Frage, wie viel Verantwortung der Staat für seine Bürger übernehmen solle. Und sie erklärt, weshalb die Schweiz mit dem Epidemiengesetz auf eine Pandemie wie Covid-19 nur unzureichend vorbereitet war.
Frau Baumann-Hölzle, Frankreich führt eine Impfpflicht für das Gesundheitspersonal ein. Was löst das in Ihnen aus?
Es überrascht mich, wie schnell dieser Entscheid gefällt worden ist. Eine Impfung erfüllt den Tatbestand einer Körperverletzung und die Menschenrechte garantieren jedem Menschen, dass er dem unter normalen Umständen freiwillig und ohne äusseren Zwang zustimmen können muss. Das Recht auf körperliche Integrität, das individuelle Abwehrrecht, gehört seit dem Zweiten Weltkrieg zu den stärksten Menschenrechten. Ein Impfobligatorium tangiert dieses Recht und muss daher äusserst gut begründet werden.
Dieses Recht kann aber aufgehoben werden, wenn eine Fremdgefährdung vorliegt.
Das stimmt, es ist aber eine Frage der Verhältnismässigkeit. Ich war in der Nationalen Ethikkommission für Humanmedizin in der Schweiz bei der Beratung des Epidemiengesetzes dabei. Bei der Frage nach dem Impfobligatorium bin ich automatisch von einer Epidemie mit hoher Krankheits- und Sterblichkeitsrate ausgegangen, obwohl diese nicht näher bestimmt wurden. Wenn 60 Prozent der Infizierten sterben würden, wäre es überhaupt keine Frage, ob ein Impfobligatorium ethisch gerechtfertigt ist. Jetzt stellt sich jedoch die Frage nach dem Verhältnis der Grundrechtseinschränkungen zur Krankheits- und Todesrate und zum Verhältnis des Erkrankungs- und des Impfrisikos.
Können wir es uns in einer Krise leisten, über Verhältnismässigkeit zu diskutieren?
Wir stehen nicht mehr am Beginn der Pandemie und wissen heute viel mehr. Etwa, dass die Mehrzahl der Todesfälle in Altersheimen passiert sind. Oder, dass der Altersmedian der an Corona Verstorbenen nahe an der durchschnittlichen Lebensspanne liegt. Gleichzeitig ist es sehr schwierig, die zukünftigen Entwicklungen der Virusvarianten und der Impffolgen abzuschätzen. Die Frage, ob diese Pandemie einen derart schweren Eingriff wie ein Impfobligatorium rechtfertigt, ist bislang ungeklärt. Es fehlen gut diskutierte, begründete und verbindliche Standards, was als eine leichte, mittelschwere oder schwere Pandemie definiert wird. Auch die WHO macht dazu aktuell keine Aussagen.
Was ist Ihre Antwort auf diese Frage?
Als Ethikerin liegt es nicht an mir, sie zu beantworten. Es geht nicht um meine persönlichen Moralvorstellungen. Die Ethik hat die Aufgabe, ethisch relevante Fragen zu stellen und zu zeigen, was auf dem Spiel steht. Entscheiden müssen wir dann als Gesellschaft gemeinsam. Die Weltgemeinschaft hat nach dem Zweiten Weltkrieg einen universalen Bezugspunkt für die ethische Entscheidungsfindung gesetzt: Jeder politische und gesellschaftliche Entscheid muss zwingend gegenüber dem individuellen Abwehrrecht verantwortet und begründet werden.
Gibt es Alternativen zum Impfzwang?
Beim Impfzwang ist zu bedenken: Er löst das Problem der Gefährdung des Gesamtgesellschaft nicht absolut. Auch Geimpfte können das Virus – wenn auch weniger häufig – weitergeben. Hinzu kommt, dass wir nicht wissen, was gefährliche Virusmutationen mehr fördert: Eine grosse Virenverbreitung oder der Impfdruck auf das Virus. Es gibt aber ähnlich wirksame Methoden gegen die Fremdgefährdung, die einen weit weniger tiefgreifenden Eingriff in die Grundrechte darstellen würden, etwa die verschiedenen vorhandenen Tests.
Was bedeutet ein Impfobligatorium für das Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern?
Die Frage des Impfobligatoriums wirft zuerst die Frage nach dem Verhältnis von Sicherheit und Freiheit auf: Wollen wir in einer Null-Risiko-Gesellschaft leben? Und welche Freiheiten sind wir dafür bereit aufzugeben? Die Freiheit zur Selbstschädigung ist in unserer Gesellschaft ein hohes Gut: Wir dürfen etwa rauchen, auch wenn wir wissen, dass es nicht gesund für uns ist. Wenn wir urteilsfähig sind, darf uns niemand am Suizid hindern. Eine Impfpflicht zum Selbstschutz einer urteilsfähigen Person würde bedeuten: Der Staat weiss besser, was gut für sie ist und was nicht.
Begründet wird die Impfpflicht hauptsächlich mit der Fremdgefährdung.
Beim Autofahren stellen wir auch eine Fremdgefährdung dar und trotzdem ist es nicht verboten. Bei der Debatte rund um die Impfpflicht, insbesondere beim Gesundheitspersonal, geht es also zentral um die Frage: Rechtfertigt die Fremdgefährdung durch Nichtgeimpfte ein Obligatorium?
Antworten auf diese Fragen müsste das Epidemiegesetz liefern. Ist es lückenhaft?
Bei der Frage der Verhältnismässigkeit gibt es tatsächlich eine grosse Lücke im Epidemiegesetz: Was eine Notlage von nationaler Tragweite darstellt, ist nicht definiert. Es fehlen Mortalitäts- und die Morbiditätsangaben. Die Frage ist unbeantwortet, wie viele der Infizierten tatsächlich erkranken und wie viele der Erkrankten tatsächlich am Virus sterben müssen, um politisch eine besondere oder eine ausseordentliche Notlage ausrufen zu können. Dazu gehört dann auch die Antwort auf die Frage, ab wann ein Impfobligatorium im Verhältnis zur Grundrechtseinschränkung zu verantworten ist. Diese Diskussion müssen wir im Hinblick auf künftige Epidemien unbedingt führen – und um eine verhältnismässige, gesellschaftlich breit abgestützte Definition ringen.
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