Italienische Exklave«In Campione herrscht das totale Chaos»
Keine Swisscom, keine Post mehr, dafür Zollkontrollen: In Campione d'Italia ist der Frust darüber gross, nun zur EU-Zollunion zu gehören.
In Campione ist der Frust über das neue Zollregime gross. (Video: bz)
Ohne «ID im Sack» geht Linda Christen neuerdings nicht mehr mit ihrem Pudel Gassi. «Jetzt stehen wieder keine Grenzbeamten dort. Aber das kann sich auf dem Nachhauseweg ändern», sagt die 73-Jährige mit dem Blick in Richtung Torbogen. «Campione d'Italia» prangt darauf. Seit dem 1. Januar 2020 ist die italienische Exklave der europäischen Zollunion angeschlossen – zuvor gehörte sie zum Schweizer Zollgebiet (siehe Video).
Um ihren Hund wie gewohnt von ihrem Wohnort in Bissone im Kanton Tessin nach Campione spazieren zu führen, muss Christen daher zuerst den italienischen Grenzübergang passieren. Für die Einheimischen sei die Umstellung aber noch grösser, sagt sie: «Die Leute in Campione sind gar nicht zufrieden. Es herrscht Chaos.»
«Wir sind verloren hier»
Nach dem Grenzübergang führt ein steiler Weg hoch über dem östlichen Teil des Luganersees durch Campione. Die vom Tessin umgebene 2000-Seelen-Gemeinde mit einer Fläche von 2,6 Quadratkilometern liegt auf einem paradiesischen Fleck. Die Bewohner werden mit einer atemberaubenden Sicht auf den See und die Berge verwöhnt. Doch die Idylle täuscht.
Die neue Zollkontrolle, die Campione eine lokale Konsumsteuer auferlegt (siehe Box unten), droht den Alltag der Bewohner der Schweizer Enklave komplett auf den Kopf zu stellen. Der Postverkehr läuft neu über Italien, die Schweizer Postleitzahl 6911 gibt es nicht mehr. Auch das Telefonieren über die Swisscom und öffentliche Dienstleistungen wie die Tessiner Abfallentsorgung drohen durch das neue Zollgebiet Geschichte zu werden. «Wir versuchen, zuversichtlich zu sein, aber wir sind verloren hier. Wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Es ist das totale Chaos», sagt eine Barangestellte an der Seepromenade.
Verspätete Post
«Weil jetzt alles über Italien läuft droht eine riesige, komplizierte Bürokratie», echauffiert sich auch die Barbetreiberin Ivonne Maspero. Ihre Rechnungen, die sie am 30. Dezember 2019 hätte erhalten sollen, seien erst vor drei Tagen eingetroffen. Besonders absurd sei, dass es am Grenzübergang gar nichts zu verzollen gebe. «In Campione hat es nur eine Apotheke, einen Kleiderladen und ein paar Bars und Cafés. Was will man hier denn überhaupt einkaufen?» In Campione sei nur eines sicher, witzelt sie. «Hier muss man keine Raubüberfälle befürchten. Hier gibts nichts zu holen.»
Derweil eilen Tanina Padula (54) und Sofia Bezzola (55) von Campiones Bürgerkomitee «La Voce dei Cittadini» von Termin zu Termin. «Wir sind hier in einem Gefängnis. Italien hat über die Köpfe der Campionesi entschieden und uns die Freiheit entzogen», sagt Tanina Padula. Die beiden Frauen kämpfen an vorderster Front gegen den Beitritt zur EU-Zollunion. Von 1900 Einwohnern hätten sich 1600 gegen den Beitritt gewehrt, sagt Sofia Bezzola. «Aber Italien scherte sich einen Teufel um uns.»
«Keine Ahnung, woher sie Öl bekommen»
Laut den Komiteevertreterinnen droht manchen Haushalten bereits das Heizöl auszugehen. «Sie haben keine Ahnung, ob und woher sie das Öl bekommen», sagt Padula. Eine verbreitete Befürchtung ist auch, dass die Preise der Cafés und Coiffeursalons steigen. Die frühere Bürgermeisterin Marita Airaghi sorgt sich zudem um die Sicherheit: «Bis bei einem Brand die Feuerwehr aus Italien in Campione angekommen ist, sind wir verbrannt wie Jeanne d'Arc.»
Auch andere Bewohner bringt der Anschluss an die europäische Zollunion an den Rand der Verzweiflung. Bei vielen ist der Frust so gross, dass sie sich dazu schon gar nicht mehr äussern wollen. «Wir haben schon gesagt, was wir dazu überhaupt wissen. Jetzt leiden wir lieber im Stillen», sagt eine Frau, bevor sie die Fenster eines leeren Ladenlokals putzt.
Sehnsucht nach Casino
Giorgio Zanzi, Präfekturbeauftragter von Campione, teilt die Sorgen. «Der Anschluss an die EU-Zollunion belastet die wirtschaftlichen Verträge und die finanzielle Situation der Händler und der Bürger», sagt er. Die Bürger träfen auf eine Realität, die sie vorher noch nie erlebt hätten. «Es soll Bürger geben, die sich deshalb den Umzug nach Italien oder in die Schweiz überlegen.»
Er wünsche sich, dass das Symbol Campiones, das Casino, so bald wie möglich wieder aufmache, so Zanzi. Es schaffe Arbeitsplätze und fülle die Gemeindekasse. Erst im Herbst 2018 musste das Casino, ein wichtiger Arbeitgeber, dichtmachen. Nach einer Wiedereröffnung sehnen sich auch viele Campionesi. «Nachdem wir schon das Casino verloren haben, hilft ein Zoll vor der Haustür unserem Dorf nichts», empört sich Marita Piccaluga.