Car of the weekIndian Grizzly
Indian Motorcycles verkörpern die amerikanische Sehnsucht nach Freiheit und Ungezähmtheit weit besser als andere Marke. Und länger. Auf dem neuen Modell, der FTR 1200, könnte man sich sogar Steve McQueen wieder vorstellen.
Wie viel Retro verträgt der Motorradmarkt? Die Frage stellten sich Journalisten schon vor vielen Jahren und sagten dem Trend eine schnelles Ableben voraus. Doch nur kurze Zeit später präsentierte BMW seine R nineT und seitdem boomt das Geschäft. Im Juni stellte Indian Motorcycles ihre FTR 1200 im französischen Biarritz vor. Und die imposante Erscheinung des Serienmodells dürfte der ohnehin florierenden Bewegung nochmal einen Schub verpassen.
Die FTR kommt nicht aus dem Nichts. Abgewandelt von Indians Scout FTR750 und der Scout FTR1200 Custom, die dominierenden amerikanischen Flat-Track-Racer der letzten Jahre, bringt die FTR 1200 die urige Kraftmeierei amerikanischer Sandbahnrennen auf den zivilen Asphalt.
Die Bikes hatten Power, dafür keine Bremsen
Gefahren werden Flat-Track-Races seit über 100 Jahren, erst an Amerikas Stränden, dann auf kurzen, engen Ovalstrecken, die am Ortsrand (nicht weit weg von den Abfallgruben) entstanden. Als Strassenbelag diente alles, nur kein Asphalt. Die Bikes hatten Power, dafür keine Bremsen, die kamen erst später. Und die Fahrer mussten nur Mut und Testosteron. mitbringen Erfahrung und Können kamen nach den ersten drei Krankenhausaufenthalten ganz von alleine.
Indian ist der älteste Motorradhersteller der USA, begann mit der Rennerei 1903 und war lange Zeit Marktführer. 1911 standen drei der Werksfahrer bei der Isle of Man TT auf dem Podest und als Indian in die Flat Track Races einstieg, gewann deren legendäre «Wrecking Crew» – bestehend aus Ernie Beckman, Bill Tuman und Bobby Hill – alles, was ihnen unter die Vorderräder kam.1953, ausgerechnet im gleichen Jahr, meldete Indian Konkurs an. Die Produktionshallen in Springfield, Massachusetts, wurden endgültig geschlossen.
Nach ein paar fehlgeschlagenen Wiederbelebungsversuchen, in denen die jeweiligen Besitzer es unter anderem auch mit dem US-Import von Royal Enfields versuchten, sind die Indianer wieder zurück – und diesmal meinen sie es ernst. 2011 übernahm Polaris die Traditionsfirma, 2016 stiegen sie mit der FTR 750 in die American Flat Track-Serie ein und schon am zweiten Rennwochenende standen wieder drei Werksfahrer, nämlich Jared Mees, Bryan Smith und Brad Baker, auf dem Siegertreppchen. «Nach 60 Jahren Abstinenz sind wir wieder in die American Flat Track Series zurückgekehrt,» sagte Indians Vize-Präsident Gary Gray stolz. «Mit unserer neu entwickelten FTR 750 wollten wir ein konkurrenzfähiges Bike auf die Räder stellen.»
Alle wollten die FTR 1200 Studie sehen
Das könnte klappen. Der Andrang bei der Vorstellung des Serienmodells ihrer erfolgreichen Renn-Bikes beim «Wheels and Waves»-Festival in Biarritz war riesengross, alle wollten die FTR 1200 Studie sehen – und das Echo war mehr als vielversprechend.
Obwohl man das mit der Strassenversion nicht allzu wörtlich nehmen sollte. Die Indianer mögen ihren neuen Helden als Allround-Bike vermarkten, aber zum Sonntagsausflug auf der FTR sollte man weder Gepäck noch zerbrechliches Gut mitnehmen. Von einer Zahnbürste zur Entfernung der Insekten mal abgesehen, zumal kaum einer der möglichen Besitzer die FTR 1200 mit einem Vollvisierhelm fahren wird. Die Maschine verfügt über einen 1,2-Liter-Motor, der sehr nahe am Antrieb der Custom liegt. Das US-Magazin «Cycle World» testete den V-Twin und mass knapp unter 96 PS und 100 Newtons. Das klingt für heutige Verhältnisse nicht atemberaubend, aber der Flat-Track-Racer Brad «The Bullet» Baker verglich die FTR mit einem Grizzlybären und nannte das Bike schlicht «Bad Ass.»
Die Indian FTR 1200 ist ein Motorrad für Leute, die gerne quer durch Kurven fahren und ihre Hügel vorwiegend auf dem Hinterrad erklimmen. Immerhin hat die FTR jetzt eine Bremse und einen Starter (was in früheren Zeit nicht immer selbstverständlich war), kommt auf dicken Stollenreifen daher, hat einen hochgelegten Doppelauspuff und ein extrem kurzes Heck. Das sorgt für eine grossartige Optik, aber zum Supermarkt will man damit nicht. Das Fahrverhalten verglich Motocross-Ikone Carey Hart mit einem amerikanischen Wildauftrieb. «Das ist, als wenn du einem wilden Hengst auf den Hintern haust,» sagte er grinsend nach einer Probefahrt.
«Damit kein Zweifel aufkommt, dass dieses Bike eben nicht auf einem Cruiser basiert, sondern eine neue Plattform bildet,» sagte Reid Wilson, Senior Director of Marketing and Product Planning, «entschieden wir uns während der Entwicklung der FTR 1200 Abstand vom Modellnamen der Scout zu nehmen.»
Scout oder nicht, Retro oder Café, der Name ist eh nur Schall und Rauch – und die FTR ein sehr verlockender Grizzly.

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