Internet-ReaktionenZettelt der CEO-Killer eine Revolution an?
Der Mord an Brian Thompson hat im Internet eine gemeinsame Wut gegen «die Mächtigen» ausgelöst. Woher kommt die Revolutionsstimmung – und hat sie das Potenzial, Veränderungen anzustossen?
Darum gehts
Auf Social Media wird Luigi Mangione, der mutmassliche Mörder von United-Healthcare-CEO Brian Thompson, als Held gefeiert.
Viele sehen ihn als Symbol des Widerstands gegen die Profitgier der Krankenversicherungen in den USA.
Das amerikanische Gesundheitssystem steht massiv in der Kritik, weil lebenswichtige Behandlungen oft verweigert werden.
Experten sehen in der zunehmenden Wut der Bevölkerung über soziale Ungleichheit ein Indiz, dass «der Klassenkampf die USA erreiche». Politisch revolutionäre Veränderungen erwarten sie jedoch nicht.
Die Gewaltbereitschaft könnte jedoch steigen, und Nachahmungstaten sind laut Experten nicht ausgeschlossen.
Das Internet scheint sich einig zu sein: Mit dem Mord am CEO von United Healthcare Brian Thompson hat der mutmassliche Täter Luigi Mangione der Welt einen Gefallen getan. In unzähligen Tiktoks wird der Täter als Held gefeiert, der Krankenversicherern die Stirn geboten und all die Menschen gerächt hat, die unter dem profitgierigen System leiden.
Woher kommt dieser vereinte Frust?
Sieglinde Lemke, Amerikanistin an der Universität Freiburg, beschreibt das amerikanische Gesundheitssystem als defekt und marode. «Es erfüllt häufig nicht einmal die Ansprüche, auf die Prämienzahler eigentlich ein Recht hätten. Die Profitgier grosser Versicherungsunternehmen führt dazu, dass Menschen lebenswichtige Behandlungen verweigert werden.» Es gebe erschütternde Schicksale: Patienten, die Krebs überlebten, aber letztlich an den finanziellen Folgen ihrer Arztrechnungen scheiterten. «Diese Missstände sind keine Einzelfälle, sondern systematisch bedingt.»
Wenn immer mehr Leute den amerikanischen Traum verlieren, wächst der Frust über die ‹abgehobenen Eliten.›»
Während Top-Manager wie die CEOs von Krankenversicherungen Millionen verdienten, kämpften viele Familien ums Überleben. Dieser wachsende Zorn sei bereits seit einiger Zeit spürbar, doch die Pandemie habe die Lage noch einmal dramatisch verschärft – und dazu geführt, dass «der Klassenkampf die USA erreiche».
Dem stimmt auch der Politikwissenschaftler Marco Steenbergen von der Universität Zürich zu. «Obwohl viele schon lange unzufrieden mit der Ungleichheit sind, war das Klassenbewusstsein bisher schwach ausgeprägt.» Der amerikanische Traum habe bis heute die Hoffnung genährt, dass jeder es schaffen könne. «Doch wenn immer mehr Leute diesen Traum verlieren, wächst der Frust über die ‹abgehobenen Eliten.›»

Laut Experten merke man anhand der Reaktion auf den CEO-Mord, dass das Klassenbewusstsein in der USA stärker werde.
AFPKönnte dieser Frust zu grundlegenden Veränderungen führen?
Steenbergen relativiert allerdings, was sich derzeit auf Social Media abspielt. «Linke und Rechte tun sich in ihrer Wut häufiger zusammen, als man denkt. Das heisst aber nicht, dass sie dann auch inhaltlich zueinander finden. Deshalb sehe ich hier kaum politisch revolutionäres Potenzial.»
Denkst du, dass der Hass auf die Versicherer das Potenzial für Veränderung hat?
Auch die Politikwissenschaftlerin Sarah Wagner von der Atlantischen Akademie erwartet vorerst keine grossen politischen Veränderungen, sagt aber: «Die Amerikaner sind unzufrieden damit, in welche Richtung sich das Land entwickelt. Das wird nicht gleich zu einer Revolution führen, aber Gewalt wird zusehends als ein legitimes Mittel der Auseinandersetzung gesehen.»
«Die Wut der einfachen Leute hat bereits zur Wahl von Donald Trump geführt, nun könnte sie sich zu Rache entwickeln.»
Lemke hält es gar für möglich, dass das Attentat auf Brian Thompson kein Einzelfall bleiben wird. «Der aktuelle Fall eines sozio-ökonomisch motivierten Terrorismus könnte durchaus Nachahmungstäter finden.» Dieser wird sich nicht gegen Schwächere richten, sondern gegen die Reichen. «Die Wut der einfachen Leute hat bereits zur Wahl von Donald Trump geführt, nun könnte sie sich zu Rache entwickeln.»
Deshalb könnte sich gesellschaftlich durchaus etwas verändern. «Die zunehmende Polarisierung in den USA ist die erste Konsequenz von Wut. Im nächsten Schritt könnten sich die gespaltenen Wütenden zusammentun – gegen ein politisches und wirtschaftliches System, das längst nicht mehr dem Wohl der Menschen dient.»
Eine ausgewogene und ideologiefreie Berichterstattung
Der Journalismus von 20 Minuten ist frei von Ideologie. Wir streben danach, Fakten und Meinungen zu trennen und bemühen uns, auch implizite Wertungen in der Wortwahl zu vermeiden. Wir belehren das Publikum nicht und schreiben keine Meinungsartikel zu politischen Themen. Unsere Journalistinnen und Journalisten nehmen keine politischen Tätigkeiten wahr. So steht es in unseren Publizistischen Leitlinien.
Die Redaktion von 20 Minuten betreibt unabhängigen Journalismus. Sie bildet die Pluralität der Meinungen ab, solange sich diese im Rahmen des Rechtsstaates bewegen, deklariert die Positionen von Minderheiten oder Aussenseitern als solche und ermuntert die Leserschaft zur Reflexion, Debatte und Meinungsbildung.
Die Universität Zürich attestiert 20 Minuten in einer Untersuchung, über Abstimmungen in der Schweiz besonders ausgewogen zu berichten.
Folgst du schon 20 Minuten auf Whatsapp?
Eine Newsübersicht am Morgen und zum Feierabend, überraschende Storys und Breaking News: Abonniere den Whatsapp-Kanal von 20 Minuten und du bekommst regelmässige Updates mit unseren besten Storys direkt auf dein Handy.