«IS fürchtet, bald keine Kämpfer mehr zu haben»

Aktualisiert

Neuste Gräueltat«IS fürchtet, bald keine Kämpfer mehr zu haben»

Mit einem mordenden Jungen schockiert der IS erneut. Und doch: Angesichts der Berichte über Bagdadis Verluste wirkt das wie ein letztes Aufbäumen einer schwächelnden Miliz.

von
cfr
Am 8. April hat der IS 227 Jesiden freigelassen.
Die IS-Terrormiliz hat am 11. März 2015 im Nordosten Syriens eine Offensive auf eine von Kurden kontrollierte Region an der Grenze zur Türkei gestartet. Dutzende starben bei den Kämpfen. (Archivbild)
Die irakische Armee hat am 6. März 2015 die vom IS-besetzte Stadt Al-Bagdadi zurückerobert. Die Stadt Al-Dur soll ebenfalls wieder unter irakischer Kontrolle sein, eine Bestätigung dafür fehlt jedoch.
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Am 8. April hat der IS 227 Jesiden freigelassen.

Keystone/AP/Seivan Selim

Ein kleiner Junge mit verbittertem Gesichtsausdruck steht hinter einer knienden IS-Geisel. Mit einem Schuss in den Kopf erschiesst der Bub den Mann. Das zeigt das neuste Propagandavideo der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Von Enthauptungen über das Verbrennen bei lebendigem Leib bis hin zum Kinder-Schlächter: Der IS setzt immer brutalere Methoden ein.

Auch die Zerstörungen antiker Kunst sind Ausdruck davon, dass der IS versucht, wieder an Schwung zu gewinnen, sagt Terrorexperte Kurt Spillmann zu 20 Minuten.: «Damit will der IS in den Medien bleiben.» Und weiter: «In Syrien und im Irak ist der IS in einer eher stagnierenden Lage. Er versucht mit allen Mitteln aus dieser Stagnation herauszukommen.»

Tatsächlich spricht einiges dafür, dass al-Bagdadis Terrormiliz schwächelt. Ein Überblick.

Dschihadisten-Flucht: In der nordsyrischen Stadt al-Bab, die komplett vom IS kontrolliert wird, sollen mindestens neun westliche Dschihadisten von Extremisten ermordet worden sein, weil sie in die Türkei fliehen wollten, berichtet Rami Abdulrahman, Direktor der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Das Problem der Abtrünnigen ist schon länger ein Problem für den IS. Die Terrorgruppe zerfleische sich derzeit regelrecht selbst, sagte die Organisation «Raqqa is Being Slaughtered Silently», die aus der IS-Hauptstadt Rakka berichtet. Die Zahl der Flüchtigen sei «extrem hoch», sagte Marina Ottaway vom Wilson Center gegenüber «Vice News»: «Der IS macht sich Sorgen, bald keine Kämpfer mehr zu haben.»

Vor allem westliche Krieger sind desillusioniert, bestätigt der Franzose Nicolas Henin, der zehn Monate lang IS-Geisel war. Viele seien nach Syrien gekommen, um im Bürgerkrieg zu helfen – dann wurden sie vom IS zu Gräueltaten gezwungen.

Gefangenenausbruch: Ebenfalls in al-Bab sind am Dienstag mehr als 70 Menschen aus dem IS-Gefängnis entkommen. Sie brachen aus, als eine Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Extremisten dort für einen Tumult gesorgt habe, berichteten die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte und ein weiterer Aktivist. Jetzt durchkämmten IS-Kämpfer die ganze Stadt nach den Entflohenen.

Machtkämpfe: Unter lokalen IS-Führern und unter IS-Kämpfern nehmen Uneinigkeit, Korruption und Neid zu. Das erzählten desertierte Kämpfer dem «Wallstreet Journal». Ausländische Dschihadisten erhielten etwa bessere Unterkünfte und höhere Gehälter als einheimische.

Geld- und Fachkräftemangel: Obwohl der IS als reiche Terrorgruppe gilt, hat er zu wenig Geld, um einen funktionierenden Staat zu finanzieren, berichtet der «Spiegel». Im Islamischen Staat herrscht zudem akuter Mangel an Fachkräften wie etwa Ärzten.

Gebietsverluste: Am Mittwoch teilte das US-Verteidigungsministerium mit, dass Gegner der Extremisten mit Hilfe von Luftschlägen der Anti-IS-Koalition eine wichtige IS-Verbindungsroute zwischen dem Nordosten Syriens und dem Nordirak abgeschnitten haben. Gleichzeitig meldet Bagdad, dass irakische Regierungstruppen erstmals in die strategisch wichtige irakische Stadt Tikrit vorgerückt sind.

«Psychologische Kriegsführung»

Das neuste Video und die vielen Hinweise, dass der IS schwächelt – ist das als letztes Aufbäumen der Terrormiliz vor ihrem Ende zu interpretieren? Terrorexperte Lorenzo Vidino warnt vor vorschnellen Interpretationen: «Es ist sehr schwierig zu wissen, ob der IS schwächelt», sagte er zu 20 Minuten, «ich wäre vorsichtig, denn bis vor ein paar Monaten sagte der US-Auslandsgeheimdienst CIA noch, er hätte keine Ahnung, wie viele Menschen sich dem IS angeschlossen hätten, es könnten 20'000 oder 60'000 sein. Das ist ein Riesenunterschied.»

Die Meldungen über ein Schwächeln des IS seien mit Vorsicht zu geniessen, sagte Vidino: «Solche Berichte sind Teil der psychologischen Kriegsführung der Anti-IS-Front: Regierungen und Milizen wollen das Image der ‹unbesiegbaren› Terrorgruppe zerstören.» Und weiter: «Ähnlich war es bei Al Kaida: Ab 2001 hiess es: ‹Al Kaida schwächelt!› – kurz darauf führte die Gruppe einen Anschlag durch und es hiess: ‹Al Kaida ist zurück! Und sie sind stärker denn je!›.»

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