«IS versteckt Sprengfallen in Spielsachen»

Aktualisiert

Reportage aus dem Irak«IS versteckt Sprengfallen in Spielsachen»

Ein Feld, gespickt mit Sprengsätzen. Der Minenräumer Steve führt 20 Minuten an den Ort seiner lebensgefährlichen Arbeit im Nordirak.

Ann Guenter
von
Ann Guenter
Willkommen in Bashir: Das Dorf in der Niniveh-Ebene wurde erst diesen Juni aus IS-Hand befreit.
Am Ortseingang von Bashir haben die Extremisten besonders gewütet, hier steht kaum mehr ein Haus.
Auf dem Weg dorthin donnern Lastwagen mit gefährlicher Fracht an uns vorbei.
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Willkommen in Bashir: Das Dorf in der Niniveh-Ebene wurde erst diesen Juni aus IS-Hand befreit.

Ann Guenter/20Minuten

Je mehr Territorium die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Irak verliert, desto mehr setzt sie auf IEDs («improvised explosive devices»), also auf unkonventionelle und improvisierte Brand- und Sprengvorrichtungen. Die Extremisten haben dabei einen perversen Ideenreichtum entwickelt, wie Steve, Sprengstoffspezialist und Minenräumer der Swiss Foundation for Mine Action (FSD), nur zu gut weiss: «Egal was sie in die Hände kriegen, sie versuchen es mit Sprengstoff zu füllen. So haben wir kürzlich in einer Puppe einen Quecksilberschalter gefunden», erzählt er. «Das heisst, egal wer sie aufgehoben hätte – die verwendeten 0,2 Kilogramm Sprengsatz wären losgegangen. Das wäre nicht tödlich, aber eine Hand oder ein Arm wären sicher abgerissen worden.»

An die nötigen Komponenten kommt der IS leicht: Chemikalien und Komponenten aus dem Landwirtschafts- oder Bergbausektor, aus geplünderten Laboratorien von Spitälern und Universitäten und Asservatenkammern von Polizei- und Sicherheitskräften.

«18 verpasste Anrufe – wir hatten Glück»

Abwasserrohre, Speiseölfässer, zahlreiche Alltagsgegenstände – die Liste der Dinge, die der IS für seine tödlichen Fallen benutzt, ist lang: Für die Druckplatten, die eine Explosion auslösen, verwenden die Terroristen etwa die Schaltkontakte der Innenbeleuchtung von Kühlschränken.

«Beliebt sind auch die mit einem Handy verbundenen Sprengsätze», sagt Steve. «Unlängst entdeckten wir so ein Telefon. Das Display zeigte 18 verpasste Anrufe an – die Sprengvorrichtung funktionierte also nicht, aber jemand hatte wie verrückt versucht, sie mit den Anrufen zu aktivieren. Wir hatten grosses Glück.» Es scheint fast unvermeidbar: Viele der Kleinkomponenten für IEDs stammen aus dem Westen, von Firmen wie Nokia oder Microsoft.

IEDs in regelrechter Fliessbandarbeit hergestellt

Im Irak seien IEDs mittlerweile die Hauptwaffe des IS, so Steve. «Seine Sprengsätze sind weniger entwickelt als etwa bei den Taliban, aber der IS ist sehr erfinderisch und effektiv. Er produziert schneller, als wir das Material aufspüren und vernichten können.» Er geht davon aus, dass der IS seine Sprengsätze in regelrechter Fliessbandarbeit herstellt. «Die Extremisten produzieren effizient und verfügen über Personen mit solidem Fachwissen, das sie im Westen oder noch in Armeezeit unter Saddam Hussein erworben haben.»

Das alles erzählt mir Steve in Bashir, einem kleinen Dörfchen in der nordirakischen Provinz Niniveh, eine Stunde von Kirkuk und rund drei Stunden von Arbil entfernt. Die Peshmerga haben das Dorf erst diesen Juni aus IS-Hand befreit. Wobei «befreit» relativ ist: Nachts schleichen sich noch immer IS-Sympathisanten ins Dorf, um auf der Hauptstrasse oder im Abwasserkanal, der durch die Siedlung führt, IEDs zu vergraben.

«Die Häuser, die hier noch stehen, sind fast alle mit IEDs versetzt. Beliebt sind die Teppiche bei den Eingängen. Darunter werden Löcher gegraben und mit Sprengstoff gefüllt. Früher oder später versucht jemand, den Teppich mitzunehmen, sei es der Besitzer des Hauses oder die Ali Babas, die Plünderer. Das geht meist tödlich aus», sagt Steve. Auch Fensterrahmen, Lichtschalter, Büchergestelle, selbst Aquarien sind potenzielle Verstecke.

IS braucht vier Tage, Steve drei Wochen

Derzeit arbeiten Steve und das FSD-Team auf einem Feld, keine drei Minuten ausserhalb des Dorfes. Auf einem Landstrich von etwa 20 Metern Breite und 300 Metern Länge zeigen Fähnchen den Fortschritt des Teams an: Gesäuberte Stellen werden mit blauen Fahnen abgesteckt, wo die Arbeit noch andauert, stehen rote. «Um diesen Gürtel anzulegen, benötigte der IS etwa vier Tage. Wir brauchen rund drei Wochen, um die IEDs zu finden und unschädlich zu machen.»

In Zahlen: In weniger als drei Monaten haben der amerikanische Ex-Soldat und sein Team in Bashir und zwei weiteren Dörfern auf rund 400'000 Quadratmetern über 800 IEDs entschärft: 779 Sprengfallen und 33 präparierte Blindgänger («unexploded ordnance», UXO). Ein Ende der Arbeit ist nicht in Sicht: Steve schätzt, dass allein auf der Niniveh-Ebene, auf der das Dorf Bashir liegt, noch über 3000 IEDs liegen.

«Boom»

Diese Arbeit erfordert ein hohes Mass an Konzentration – eine lebensgefährliche «Gvätterliarbeit»: Ein falscher Griff, eine falsche Bewegung können verheerend sein. Um die nötige hohe Aufmerksamkeit gewährleisten zu können, arbeiten Steve und seine Männer jeweils nur in kurzen Intervallen und gleich lang, wie sie Pause machen: jeweils eine halbe Stunde.

Ich halte es auf dem Feld bei Bashir in der schweren blauen Schutzkleidung der Minenräumer kaum zehn Minuten aus: Die Bleiplatten schlagen einem gegen die Beine, das lange Visier des Helms nimmt einem die Luft. Die Sonne schlägt auf mich nieder, und auf dem Feld, auf das mich Steve führt, regt sich nichts, erst recht kein Schatten. Steve lächelt nur, wie ich hinter ihm herjapse. «Jetzt ist schon Ende September. Da fühlen sich 38 Grad schon fast kühl an.» Er zieht die Spätsommerhitze der Winterkälte ohnehin vor. «Der harte Boden macht unsere Arbeit im Winter sehr viel schwieriger.»

Einer von Steves Mitarbeitern, der zuvor noch mit einem Metalldetektor hantiert hatte, deutet auf etwas Weisses auf dem Boden: Teile eines skelettierten Schweineschädels. «Boom», sagt Rasheed Tofiq dazu nur. Der IS terrorisiert die Dorfbevölkerung, wo er immer könne, fügt Steve hinzu. «Ein junger Schäfer hat auf diesem Feld erst vor wenigen Tagen zwei seiner Tiere verloren. Ihre Hinterbeine wurden weggesprengt, sie verendeten elend. Zwei Schafe, das ist viel hier. Die Leute sind ohnehin schon arm. Diese IS-Arschlöcher.»

«In Mosul alleine rechnen wir mit rund 10'000 IEDs»

Die Offensive im wenige Autostunden entfernten Mosul tritt in ihre entscheidende Phase. Mosul gilt als die «Hauptstadt» des IS im Irak. «Es ist eine der sonderbarsten Militäroperation, von der ich je gehört habe», so Steve. «Jede Seite scheint zu wissen, was die andere macht.»

Abertausende Minen und Sprengfallen werden ihn und sein Team in der Millionenstadt «willkommen» heissen, wie Steve es nennt: «In der Stadt rechnen wir mit rund 10'000 IEDs.» Alleine wird das FSD-Team das nicht stemmen. «Wir sind für den Norden der Stadt eingeteilt, andere Anti-Minenorganisationen im Süden. Auch irakische Firmen sollen mittun. Das Problem ist, dass niemand sie zahlt und viele von ihnen deswegen ihre Arbeit bereits jetzt eingestellt haben.»

Mich überkommt ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Das Land von den tödlichen Hinterlassenschaften des IS zu säubern, wird Jahre dauern und noch viele Opfer fordern. Steve scheint dagegen gefeit. «Jemand muss diese Arbeit machen», sagt er gutgelaunt. Der 49-Jährige ist seit kurzem verheiratet. Belastet die lebensgefährliche Arbeit seine Ehe? «Doch, das tut sie. Wir streiten uns fast täglich deswegen.» Irak, so ist es geplant, soll Steves letzter Einsatz sein. Dann will er mit anderen Kriegsveteranen in den USA ein Restaurant eröffnen.

30 Jahre Erfahrung und entsprechend viele Tattoos:

Irak Interview Steve

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