«Italien hat seine Bürger belogen und die WHO hinters Licht geführt»

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Corona-Pandemie«Italien hat seine Bürger belogen und die WHO hinters Licht geführt»

Italien sei auf dem höchsten Level und aktuellsten Stand, was seine Pandemieplanung angehe. Das gab das Land gegenüber der WHO im Februar 2020 an.

von
gux
Vor einem Jahr sorgten diese Fotos aus Italien für Entsetzen und Angst: Militärlaster voller Särge mit Corona-Toten in Bergamo.
Ein Vergleichsbild aus Robbiano in der Lombardei: Am 22. März 2020 kann Pastor Don Giuseppe Corbari wegen des Lockdowns nur mit den Selfies seiner Schäfchen beten, ein Jahr später kann er die Gemeinde wieder persönlich empfangen.
Am 28. März werden in Seriate bei Bergamo Särge zur Kirche von San Giuseppe gefahren, um die letzte Segnung zu erhalten. Heute kann die Kirche wieder eine normale Messe abhalten.
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Vor einem Jahr sorgten diese Fotos aus Italien für Entsetzen und Angst: Militärlaster voller Särge mit Corona-Toten in Bergamo.

AFP

Regelmässig liefern Länder der WHO einen Bericht, in dem sie ihre Aufstellung und Planung im Fall eines nationalen Gesundheitsnotstandes selbst bewerten. Italien reichte sein «self-assessment» im Februar 2020 ein, rund drei Wochen bevor im Land die ersten Corona-Toten gemeldet worden waren.

Der britische «Guardian» hat Einblick in den Bericht Roms an die WHO erhalten und festgestellt: Das Land hat sich in seiner Pandemieplanung ver- und selbstüberschätzt. So bewertete es seine Vorbereitungen auf einen nationalen Gesundheitsnotfall insgesamt mit einer 5 – dem höchsten Grad in der Eigenbewertung. Damit bestätigte Italien, dass «der Mechanismus zur Koordinierung der Notfallmassnahmen im Gesundheitssektor und das mit einer nationalen Notfallzentrale verbundene Vorfallmanagementsystem regelmässig getestet und aktualisiert» werden. Ein Falschangabe, erst recht, nachdem sich letztes Jahr herausstellte, dass Italiens Pandemieplan das letzte Mal 2006 überarbeitet worden war.

60 von 70 Angaben waren falsch

In dem Bericht an die WHO habe Italien bei 60 von 70 Punkten falsche Angaben «ohne Grundlagen» gemacht, sagt Pier Paolo Lunelli dem «Guardian». Der pensionierte General hat das Dokument analysiert und kommt zum vernichtenden Schluss: «Der Bericht umfasst einen Berg von Beweisen, welche von der fehlenden Vorbereitung zeugen, mit der wir uns dem Corona-Virus-Notfall stellten.» Somit «haben wir mit der Behauptung, gewappnet zu sein, die italienischen Bürger belogen. Und wir versuchten, die WHO, die EU und andere europäische Länder zu täuschen, indem wir mit Ressourcen prahlten, die wir gar nicht hatten.»

Lunellis Analyse des fehlerhaften Berichts an die WHO ist nun Anwälten in Bergamo übergeben worden. Diese vertreten Familien von Covid-Opfern, die gegen hohe italienische Politiker, wie Gesundheitsminister Roberto Speranza, eine Klage wegen Fahrlässigkeit während der Corona-Pandemie anstreben. Italiens «self-assessment»-Report könnte in dem Zivilverfahren der «überwältigende Beweis für die Voraussetzungen einer falschen Darstellung» sein, so einer der Anwälte.

Italien war das erste Land Europas, das von der Pandemie überrollt worden war. Bilder von überfüllten Spitälern, alleingelassenen Kranken und mit Särgen beladenen Militärfahrzeugen gingen um die Welt. Bis heute beklagt das Land fast 96’000 Corona-Tote.

Neue Regierung

Mehr Impfstoff in Italien produzieren

Italiens neue Regierung unter Mario Draghi will das Impftempo gegen Corona beschleunigen und prüft deshalb die Produktion der Impfstoffe im eigenen Land. Der Präsident des Pharmaverbandes Farmindustria, Massimo Scaccabarozzi, sagte der Zeitung «La Stampa» vom Dienstag, potenziell seien Italiens Firmen in der Lage, die zugelassenen Stoffe ebenfalls herzustellen. Allerdings gebe es dabei vieles zu beachten, und es brauche Monate der Vorbereitung.

Der neue Regierungschef Draghi hatte die Impfkampagne in seiner ersten Regierungserklärung vergangene Woche zu einem Schwerpunkt erklärt. Der Pharma-Präsident ist für Donnerstag zu Gesprächen zum Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Giancarlo Giorgetti, über eine nationale Impfstoff-Produktion eingeladen. «Selbst wenn wir die notwendigen Bioreaktoren finden würden, würde es 4 bis 6 Monate ab dem Zeitpunkt ihrer Aktivierung dauern, um die Impfstoffe zu erhalten», sagte Scaccabarozzi. Ausserdem sei er nicht sicher, ob der Druck auf mehr Dosen dann noch so hoch sein werde wie aktuell. Ein nationaler Plan sei trotzdem sinnvoll, auch «im Hinblick auf andere Epidemien». Die Zeitung «La Repubblica» gab zu bedenken, dass in Italien produzierte Dosen nicht automatisch an die Menschen im Land gespritzt würden, sondern womöglich in Europa weiter verteilt werden müssten.

In Italien mit seinen 60 Millionen Einwohnern wurden bisher rund 3,6 Millionen Impfdosen gegen das Coronavirus gespritzt.

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