Adler auf AbwegenJagen Greifvögel wirklich Kleinkinder?
Das Video ist ein Renner auf YouTube: In Montreal filmte ein Mann, wie ein Steinadler versucht, sich ein Kleinkind zu greifen. Trotzdem muss man sich vor Greifvögeln nicht fürchten, erklären Experten.
Die Filmaufnahme ist spektakulär: Ein riesiger Steinadler packt ein kleines Kind und versucht mit ihm davonzufliegen. Der Vorfall soll sich in einem Park in Montreal ereignet haben.
Das Video wirft Fragen auf. Auf Youtube kursieren Ausschnitte des Clips in Zeitlupe, die beweisen sollen, dass es sich um eine Fälschung handelt. Das sei schwer zu sagen, meint der Biologe Samuel Furrer, Kurator am Zoo Zürich und Experte für südamerikanische Vögel. Auch sehr grosse Raubvögel oder Geier könnten höchstens Lasten von zwei bis drei Kilogramm tragen, sicher aber nicht zehn Kilogramm. Möglicherweise habe aber der Steinadler in Montreal das Kind mit viel Schwung tatsächlich für einen kurzen Moment tragen können. «Doch es ist ausgeschlossen, dass er mit ihm hätte wegfliegen können», versichert Furrer.
Kinder passen nicht ins Beuteschema
Auch der Ornithologe Matthias Kestenholz von der Vogelwarte Sempach ist eher skeptisch: Von einem solchen Fall habe er noch nie gehört. Immerhin würden Tausende von Ornithologen mit Vorliebe Steinadler beobachten, doch noch nie habe einer Vergleichbares gesehen. Überdies sei das bisher schwerste Gewicht, das ein Steinadler – «mit Mühe und Not», wie Kestenholz betont – nachweislich getragen habe, lediglich 3,6 Kilogramm.
Ausserdem passen kleine Kinder nicht ins Beuteschema der Raubvögel, wie Furrer sagt: «Kleinkinder sind für Steinadler absolut uninteressant.» In ihrem Beutespektrum dominieren vornehmlich bodenbewohnende, kleine bis mittelgrosse Säugetiere. Die obere Grenze des Beutegewichts liegt bei etwa 15 Kilogramm; Adler erbeuten oft Tiere, die schwerer sind als sie selber, beispielsweise Steinbock- oder Gämsenkitze. Allerdings können sie keine Kadaver tragen, die schwerer sind als sie selber. Beutetiere dieser Grösse greifen sie am Kopf und schlagen dann ihre ausserordentlich scharfen und kräftigen Krallen durch die Schädeldecke ins Gehirn. Neben lebenden Tieren verzehren Steinadler aber auch viel Aas.
Nahezu ausschliesslich von Aas ernährt sich der grösste Greifvogel, der in der Schweiz heimisch ist – der Bartgeier. Lebende Tiere gehören überhaupt nicht in sein Nahrungsspektrum. Dennoch wurde dem Bartgeier, der eine Flügelspannweite von bis zu 2,9 Metern erreicht, lange nachgesagt, er jage Lämmer und Gämsen, weshalb er auch oft Lämmergeier genannt wurde. Gelegentlich wurde dem Geier sogar angedichtet, er trage manchmal Kinder davon. So wurde erzählt, ein Geier habe im appenzellischen Hundwil ein Kind vor den Augen seiner Eltern weggetragen. Und auf einer Alp im Kanton Schwyz sei ein Junge von einem solchen Räuber zerfleischt und in den Abgrund gestossen worden. Solche Schauermärchen trugen dazu bei, dass der Bartgeier rücksichtslos ausgerottet wurde.
In Wahrheit muss man sich vor Greifvögeln nicht fürchten. Nur selten komme es zum Beispiel vor, so der Biologe Furrer, dass Bussarde während der Brutsaison Menschen attackieren, die in ihr Revier eindringen. Dass Kinder davongetragen werden, gehört nicht zu den realen Gefahren. Für Kestenholz ist klar: Sollte sich die Adler-Attacke in Montreal wirklich so zugetragen haben, dann würde es sich um eine absolute Ausnahme handeln.

Steinadler
(Aquila chrysaetos)
Der Beutegreifer erreicht eine Spannweite von bis zu 2,2 Metern und gehört zu den grössten und am weitesten verbreiteten Vertretern der Gattung Aquila. Das Weibchen ist in der Regel 10 Zentimeter grösser als das Männchen und kann eine Körperlänge von 90-100 Zentimetern und ein Gewicht von 3,8 bis 6,7 Kilogramm erreichen. Durch die rücksichtslose Verfolgung gingen die Bestände einst stark zurück, haben sich mittlerweile aber zumindest im Alpenraum erholt. 2009 lebten 300-310 Paare in der Schweiz.
(Quelle: Vogelwarte Sempach / Wikipedia)