Jelmoli, Flyer, CH MediaUnsere Wirtschaft geht vor die Hunde – oder doch nicht?
Der Knall bei CH Media ist nur die jüngste von vielen Hiobsbotschaften aus der heimischen Wirtschaft. Dennoch ist das Gesamtbild besser, als man denken könnte.
Arbeitsmarkt: Darum gehts
Gerlafingen, Jelmoli, Weltbild, Flyer und jetzt CH Media: In der Schweiz überschlagen sich wirtschaftliche Negativmeldungen.
Fakt ist: Die heimische Wirtschaft befindet sich in einer strukturellen Umwandlung, eine Rezession ist aber nicht zu verorten.
Zwei Ökonomen erklären, wie das negative Gesamtbild zustande kommt – und es in Wahrheit wesentlich besser ausschaut.
Und täglich schwingt die Job-Axt. Dies zumindest haben sich viele der 20-Minuten-Leserinnen und -Leser gedacht, als am Dienstagmorgen bekannt wurde, dass mit der Schliessung von sechs regionalen Today-Portalen 34 Menschen auf einen Schlag ihren Job verlieren. Es ist der nächste Nackenschlag einer gebeutelten Medienbranche, nachdem erst Ende August 290 Vollzeitstellen bei der Tamedia gestrichen wurden.
Dabei ist die Medienbranche nur einer von vielen Wirtschaftszweigen, bei denen das Damoklesschwert über den Köpfen der Belegschaften schwebt. Die 120 Entlassungen bei Stahl Gerlafingen Mitte Oktober und die darauffolgenden Proteste dürften noch bestens in Erinnerung sein.
Die bevorstehende Schliessung des Zürcher Traditions-Warenhauses Jelmoli – samt 850 verlorenen Stellen – wird schon jetzt landesweit bedauert. Genauso wie das plötzliche Verschwinden des Weltbild-Verlages (124 Stellen in der Schweiz) oder die drohende Massenentlassung bei E-Bike-Hersteller Flyer.

Wird Ende 2024 verschwinden: Das Traditions-Warenhaus Jelmoli.
IMAGO/Depositphotos«Wo führt das alles hin?»
«Die Wirtschaft wird an die Wand gefahren», klagt Userin «Innerschweizerin», während «Kimi2024» anmerkt, die Welt gehe mehr und mehr Pleite. «Jackpot1291» ergründet: Der Höhepunkt der Wirtschaft ist erreicht, die Arbeitslosenquote steigt. «Drachenkrieger777» fragt sich «Wo führt das alles hin?» und «Caramia» will wissen: «Wird die Schweiz ausverkauft?»
Das natürlich nicht ganz repräsentative Sample zusammengefasst lässt sagen: Die Leute machen sich Sorgen. Doch wie schlimm steht es wirklich um die heimische Wirtschaft? Vornweg: Ja, in der Tendenz steigt die Arbeitslosigkeit. Ende Oktober lag die Arbeitslosenquote bei 2,5 Prozent, rund 0,5 Prozent höher als im Oktober des Vorjahres.
Warst du schon einmal arbeitslos?
Allerdings bleibt sie trotz dieser Zunahme im historischen Vergleich auf einem relativ niedrigen Niveau. Und: Die absoluten Zahlen (116'447 Arbeitslose, 24,5 Prozent höher als im Vorjahresmonat) werden unter anderem mit der wachsenden Erwerbsbevölkerung aufgewogen.
Strukturelle Umwandlung, keine Rezession
Aber nicht nur das: Die genannten Schlagzeilen widerspiegeln sich zwar in den branchenspezifischen Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO), wonach es etwa im Handel im Vergleich zum Vorjahresmonat 2919 Arbeitslose mehr gibt (+22,7 Prozent). Oder auch in der Information und Kommunikation (wie etwa Medienhäuser) mit 1395 zusätzlichen Arbeitslosen (+34,9 Prozent).
Jedoch wächst die Arbeitslosenquote verhältnismässig deutlich weniger – und das Bruttoinlandprodukt steigt. Dies heisst wiederum: Die Schweizer Wirtschaft rutscht nicht in eine Rezession ab, sondern es findet lediglich eine strukturelle Umwandlung einzelner Branchen statt.
Man liest nur von Schliessungen
Strukturelle Umwandlung bedeutet, dass einzelne Branchen im Verhältnis zur Gesamtwirtschaft an Bedeutung einbüssen – während andere wiederum an Bedeutung gewinnen. «Strukturwandel und Sektoren, die an Wichtigkeit verlieren, hat es immer schon gegeben», erklärt Timo Boppart, Ökonomie-Professor an der Universität Zürich. «Man denke daran, wie gross einmal die Schweizer Textilindustrie war oder an die schrumpfende Bedeutung des Agrarsektors.»
Paradebeispiel für strukturellen Wandel: Die Textilindustrie in der Ostschweiz, die während des letzten Jahrhunderts praktisch verschwand.
YoutubeGleichzeitig hält er fest: In der Schweiz gebe es kein Problem mit struktureller Arbeitslosigkeit. Dass sich in der Öffentlichkeit zurzeit dennoch ein durchwegs negatives Bild zeichnet, erklärt er mit der Berichterstattung: «Wenn etwa eine grosse Firma schliesst, ist das eher sichtbar.»
Eine Tatsache sei jedoch, dass die Schweizer Wirtschaft auch vom Strukturwandel profitiert – gewisse Sektoren expandieren und gleichzeitig werden neue Firmen gegründet. Aber: «Diese Meldungen kann man allerdings nicht in der Zeitung lesen.» Beispiele seien dafür die Chemieindustrie oder die relative junge Kryptobranche.
Weltspitze in Sachen Innovation
Auch Johannes Binswanger, VWL-Professor an der Universität St. Gallen, findet beruhigende Worte für die Schweizer Wirtschaftsseele. Ergänzend hebt er die hiesige Innovationskraft hervor: «In einem Smartphone oder iPhone sind vermutlich Hunderte Komponenten durch Schweizer Firmen gefertigt.» Die Schweiz ist zudem seit vielen Jahren Weltspitze, was die Anzahl Patente pro Kopf anbelangt.
Nicht zuletzt deshalb sei die Zunahme von neuen Stellen im Bereich Elektro-, Medizinaltechnik und Optik besonders hoch, so Binswanger. Und: Natürlich seien viele offenen Stellen im Gesundheitsbereich naheliegend.
China und Digitalisierung
Weshalb gerade mehrere Branchen gleichzeitig von strukturellem Wandel betroffen sind, hat für Binswanger mit folgenden Entwicklungen zu tun: Digitalisierung (z. B. Mediensektor), starke Qualitätsverbesserungen von chinesischen Produkten, die relativ günstig sind im Vergleich zu Schweizer Produkten (z. B. Industrie) und teurer Schweizerfranken (z. B. Tourismus).
Der Kostendruck aus China und die Digitalisierung hätten dabei den grössten Einfluss. Dennoch scheint klar: Es gilt weniger eine Job-Axt zu fürchten, aber vielmehr einen Job-Rechen, der die Stellen umverteilt.
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