«Jemanden ganz von der Furcht zu befreien, ist schwierig»

Aktualisiert

Flugangstseminare«Jemanden ganz von der Furcht zu befreien, ist schwierig»

Nicht erst seit dem Crash der AF 447 fliegt die Angst bei vielen Passagieren ständig mit. Inwieweit helfen Flugangstseminare, die grosse Furcht vor dem Reisen in schwindelerregender Höhe einzudämmen? 20 Minuten Online fragte bei einer Expertin nach.

von
Runa Reinecke

Wer heute ein Flugzeug besteigt, tut dies vielleicht nicht ohne mulmiges Gefühl in der Magengegend. An wessen geistigem Auge ziehen dann nicht die Bilder der im offenen Meer schwimmenden Wrackteile der verunglückten Air France 447 vorüber? Menschen, für die das Fliegen zur quälenden Pflicht wird, weil der Beruf oder die private Situation keine Alternative für das aviatische Reisen zulässt, versuchen ihre Furcht mit einem Flugangstseminar in den Griff zu bekommen. 20 Minuten Online befragte Claudia Boller-Fischer,

Organisational Manager für Flugangstseminare bei Swiss Aviation Training in Zürich, wie und ob sich die innere Katastrophe zur leichten Stimmungsturbulenz verwandelt lässt.

20 Minuten Online:

Frau Boller, wann spricht man von einer Flugangst?

Die Flugangst hat viele, ganz unterschiedliche Gesichter – entgegen der weitläufigen Meinung ist sie nicht angeboren. Der Flugangst geht oft ein Schlüsselerlebnis voraus, wie zum Beispiel Turbulenzen während eines Fluges oder ein Durchstarten des Flugzeuges. Bei Kindern, die unter Flugangst leiden, spielt oft die Einstellung der Eltern eine wesentliche Rolle.

Macht es einen Unterschied, ob ein Passagier unter klassischer Flugangst oder einer anderen Phobie wie beispielsweise der Höhenangst leidet?

Die «klassische» Flugangst gibt es nicht – hier treffen mehrere Faktoren zusammen. Es kann sich sowohl um eine Höhen- als auch eine Platzangst und andere Phobien handeln. Oft ist es das Gefühl, der Maschine und den Piloten komplett ausgeliefert zu sein, ohne selbst Einfluss auf das Geschehen nehmen zu können. Wichtig ist, auf jede einzelne dieser Komponenten psychologisch einzuwirken.

Was passiert, wenn ein von Flugangst betroffener Passagier kurz vor dem Start aussteigen möchte, weil für ihn die Angst unerträglich wird. Kann er das?

Nein, in der Regel versuchen die Flight Attendants, den Passagier zu beruhigen. Für den Notfall stehen auch sanfte Beruhigungsmittel zur Verfügung.

Und was geschieht, wenn ein Passagier so sehr von der Angst getrieben ist, dass er renitent wird?

Ein solcher Fall ist mir nicht bekannt - diese Verhaltensweise ist für einen von Flugangst Betroffenen ausserdem atypisch. Ein solcher Passagier wirkt eher introvertiert, atmet schnell und sitzt verkrampft und mit schweissnassen Händen auf seinem Platz.

Angenommen, ich muss schon morgen früh geschäftlich verreisen und fürchte mich vor dem Flug. Was raten Sie mir?

Wird die Angst unerträglich und scheitern sämtliche Versuche, sich mit Hilfe von Entspannungsmethoden, wie beispielsweise autogenem Training, zu beruhigen, sollten Sie noch heute einen Arzt aufsuchen. Er kann Ihnen ein Beruhigungsmittel verschreiben, das den Flug für Sie angenehmer macht. Wichtig ist ausserdem, viel Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Auf Alkohol sollten Sie aber komplett verzichten – er wirkt in einer solchen Situation kontraproduktiv.

Bekommen Sie seit dem Air-France-Unglück mehr Anfragen als sonst?

Nein, das wäre auch ungewöhnlich. Die Angst vor dem Fliegen und der Wille, diese zu bekämpfen, entstehen nicht von heute auf morgen. Normalerweise dauert es seine Zeit, bis jemand bereit ist, sich für ein solches Seminar anzumelden.

Was erwartet mich während einer solchen Schulung, wie lange dauert und was kostet sie?

Die zweitägigen Seminare finden über das Wochenende statt. Geleitet wird es von einem Psychologen, der selbst als Maître de Cabine bei Swiss fliegt. Das Seminar beginnt mit der Auseinandersetzung mit dem Thema Angst und deren Auslöser – aber auch mit ihren wirkungsvollen Gegenspielern wie Entspannungs- oder Atemübungen. Weiter werden technische Grundlagen des Fliegens von einem Piloten und einem Flight Attendant erklärt. Erläutert werden unter anderem die verschiedenen Geräusche, die ein Passagier während des Fluges wahrnimmt und oft Angst einflössen.

Auch ein Flugzeug wird besichtigt, und die Seminarteilnehmer können sich sämtliche technischen Besonderheiten direkt von Experten erklären lassen. Höhepunkt ist dann am zweiten Kurstag ein Hin- und Rückflug innerhalb Europas in Begleitung eines Psychologen. Das ganze Seminar kostet 1200 Franken - Flug und Mittagessen inklusive.

Wer bucht solche Seminare? Manager, die aufs Fliegen angewiesen sind oder Menschen, die selten oder sogar noch nie geflogen sind und endlich einmal eine Fernreise unternehmen wollen?

Von den maximal zwölf Seminarteilnehmern fliegt der grösste Teil relativ regelmässig und ist aus beruflichen Gründen aufs Fliegen angewiesen. Es sind aber auch immer ein bis zwei Personen mit dabei, die erst wenige Male in ihrem Leben oder sogar noch nie geflogen sind.

Wie gut stehen die Chancen, dass ich langfristig von meiner Flugangst befreit werden kann beziehungsweise nicht rückfällig werde?

Gemäss unserer durchgeführten Befragung fühlen sich ca. 90 bis 95 Prozent aller Teilnehmer seit dem Seminar besser vor und während eines Fluges. Jemanden ganz von der Flugangst zu befreien ist sehr schwierig. Die Teilnehmer lernen mit ihrer Angst besser umzugehen und können nach dem Seminar mit guten Gefühlen ein Flugzeug besteigen. Wichtig ist, dass die Teilnehmer möglichst bald nach dem Seminar einen Flug unternehmen, damit sich die Angst nicht wieder von Neuem aufbaut.

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