Zunehmende Übergriffe: So verändert sich der Alltag der jüdischen Gemeinschaft

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Jonathan Kreutner«Meine eigenen Kinder schlossen aus Vorsicht die Tür immer ab»

Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) reagiert auf die Explosion der antisemitischen Übergriffe in der Schweiz.

Fordert griffigere Massnahmen gegen Rassismus und Antisemitismus: Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerisch Israelitischen Gemeindebundes.
Gemeinsame Interessen: In der Rassismusprävention sucht der SIG auch die Zusammenarbeit mit den muslimischen Organisationen, die ebenfalls eine massive Zunahme von Rassismus erleben.
«Müssen uns auf eine neue Realität einstellen»: Kreutner geht davon aus, dass eine gewisse Normalisierung von antisemitischen Übergriffen stattgefunden hat.
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Fordert griffigere Massnahmen gegen Rassismus und Antisemitismus: Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerisch Israelitischen Gemeindebundes.

Darum gehts

  • Seit Oktober 2023 sind antisemitische Vorfälle in der Schweiz drastisch gestiegen.

  • Jonathan Kreutner betont die Wichtigkeit der Zusammenarbeit mit muslimischen Organisationen.

  • Der SIG fordert von den Behörden stärkere Massnahmen gegen Antisemitismus.

  • Viele in der jüdischen Gemeinschaft passen ihr Verhalten aus Sicherheitsgründen an.

Herr Kreutner, die antisemitischen Vorfälle haben 2024 noch einmal massiv zugenommen. Wie wirkt sich das auf die jüdische Bevölkerung in der Schweiz aus?

Jonathan Kreutner: Unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 war die Verunsicherung enorm. Es gab damals aus dem Stand zehn Tätlichkeiten. Diese Entwicklung setzte sich im 2024 fort. Früher hatten wir maximal eine Tätlichkeit pro Jahr. Die Verunsicherung bleibt bestehen, und der Angriff auf einen orthodoxen Juden in Zürich im letzten März hat uns alle tief getroffen. Der Angriff passierte dort, wo viele Jüdinnen und Juden leben, wo ihre Kinder zur Schule gehen.

Können Sie konkrete Beispiele nennen, wie sich das Leben der jüdischen Menschen verändert hat?

Es gibt zahlreiche jüdische Menschen, die eine gewisse Vorsicht an den Tag legen. Einige tragen keine Kippa oder Davidsterne mehr, meiden gewisse Gegenden oder haben ihr Verhalten angepasst. Eine neue Studie zeigt, dass fast ein Drittel der befragten Jüdinnen und Juden gewisse Dinge vermeidet. Auch meine eigenen Kinder schlossen eine Zeitlang die ganze Zeit aus Vorsicht die Tür ab.

Wie erleben Sie persönlich diese Veränderungen?

Ich bin Teil dieser Gemeinschaft und erlebe Vorfälle auch direkt. Ich sehe die antisemitischen Zuschriften, die wir an den SIG kriegen, ich erlebe auch die Stimmung, die Diskussionen, wie meine eigenen Kinder damit umgehen. Der Fall vom 2. März ging mir persönlich sehr nahe, auch weil er mitten im Herz des jüdischen Zürichs passierte, dort wo auch ich lebe und arbeite. Es stimmt nachdenklich, aber es löst auch eine Gegenreaktion aus, dass wir uns jetzt erst recht dafür einsetzen müssen, dass unsere Gemeinschaft sich auch in Zukunft hier in der Schweiz sicher und wohlfühlt.

Der Bericht erwähnt auch muslimische Menschen als ein Teil der Tätergruppe. Suchen Sie diesbezüglich das Gespräch mit den muslimischen Organisationen?

Ja. Unsere Beziehungen zu den muslimischen Organisationen sind sehr gut, sie haben sich sogar nach dem 7. Oktober vermutlich noch verbessert. Wir haben zum Beispiel nach dem Angriff auf den orthodoxen Juden viel Solidarität von muslimischen Organisationen erfahren. Es ist wichtig, eine klare Trennung zwischen islamistisch motivierten Tätern und der grossen Mehrheit der Muslime zu machen, die diese Ideologie nicht teilen. Tatsache ist zwar, dass es im radikal propalästinensischen Lager, dem sich teils auch muslimische Menschen zuordnen, zu mehr antisemitischen Grenzüberschreitungen kommt. Bei aller Tragik und Ernsthaftigkeit dürfen wir keine pauschalen Urteile zulassen, gegenüber keiner Gruppe.

Muslime erfahren in der Schweiz ja auch Diskriminierung, wie kürzlich ein Bericht aufzeigte. Gibt es gemeinsame Interessen, insbesondere im Bereich der Rassismus-Prävention?

Ja, wir möchten unsere Erfahrungen und Expertisen anderen Minderheiten weitergeben, jetzt explizit auch den Muslimen. Unser Präventionsprojekt Likrat an Schulen zum Beispiel ist ein Erfolgsprojekt, und wir sind gerne bereit, unsere Erfahrungen zu teilen.

Wie gut fühlen Sie sich von den Behörden geschützt?

Wir sind sehr froh um die Unterstützung des Staates zur Finanzierung der Sicherheitsmassnahmen und es ist vieles in Bewegung geraten, so kommt ein Verbot von Nazi-Symbolen. Auch das Hamas-Verbot ist beschlossene Sache. Aber es gibt immer Luft nach oben. Es braucht eine Strategie gegen Rassismus und Antisemitismus und ein nachhaltiges Engagement der öffentlichen Hand beim Monitoring antisemitischer Vorfälle. Es braucht griffigere Massnahmen gegen Antisemitismus und Rassismus im Netz und mehr Prävention, auch an Schulen

Wie blicken Sie in die Zukunft?

Ich befürchte, dass sich eine traurige Realität eingelebt hat, dass antisemitische Vorfälle salonfähiger geworden sind. Gewisse Dämme sind gebrochen, und gewisse Grenzen werden überschritten. Wir müssen uns wahrscheinlich auf diese neue Realität einstellen, aber wir dürfen den Kopf nicht in den Sand stecken und unser Leben als Juden und Jüdinnen in diesem Land nicht komplett verändern. Die jüdische Gemeinschaft ist Teil der Schweiz und wird es auch bleiben. Denn die Schweiz ist unser Zuhause.

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