«Kinder werden wie Maschinen abgestellt»

Aktualisiert

Kampf gegen ADHS«Kinder werden wie Maschinen abgestellt»

Deutsch- und Westschweizer Kinder schlucken fünf Mal mehr Ritalin als Tessiner Kids. Dort dürften Kinder eben noch Kinder sein, sagt ein Arzt.

von
Désirée Pomper

Die Abgabe von ADHS-Medikamenten wie Ritalin steigt in der Schweiz stetig an. Eine Auswertung der Krankenkasse Helsana zeigt: Im Jahr 2009 bezogen mit 5100 ihrer Versicherten 42 Prozent mehr Ritalin oder ähnlich wirkende Medikamente mit dem Wirkstoff Methylphenidat als noch 2006. Auf alle Kassen hochgerechnet nahmen 2009 rund 29 000 Menschen Methylphenidat. Die meisten waren ­7- bis 18-Jährige. Der jüngste Versicherte war bei der Erstabgabe drei Jahre alt.

Am erstaunlichsten aber ist: Im Tessin ist der Anteil der Bezüger etwa fünf Mal tiefer als in der Deutsch- und Westschweiz. Dass es dort weniger ADHS gebe oder dass dort eine Unterversorgung herrsche, sei kaum plausibel, so die Studie. Deren Autoren vermuten eine grundsätzlich andere Behandlungsphilosophie. In Italien habe sich in den letzten Jahren eine relativ grosse Bewegung gebildet, die der Abgabe von Psychopharmaka an Kindern kritisch gegenüberstehe.

Kinderarzt Benedikt Bucher, der in Agno TI praktiziert, stellt fest: «Viele Eltern denken fälschlicherweise, Ritalin sei eine Droge, und lehnen es deshalb ab.» Der Tessiner Kinderarzt Mario Mariotti hat in seiner dreissigjährigen Tätigkeit als Arzt nur zwei Kindern Ritalin verschrieben. Die meisten seiner Tessiner Arztkollegen seien Ritalin gegenüber negativ eingestellt, sagt Mariotti. Auch die Eltern fragten kaum nach ADHS-Medikamenten. «Wir Südländer sind dem Kind gegenüber tole­ranter eingestellt als Deutschschweizer und lassen sie austoben. Kinder haben nun mal Temperament. Sie sind nie ruhig», sagt Mariotti. In der Deutschschweiz aber würden Kinder oft «wie Maschinen abgestellt, damit sie endlich Ruhe geben».

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