Könnten disziplinierte Senioren den Lockdown verhindern?

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Schutz der RisikogruppenKönnten disziplinierte Senioren den Lockdown verhindern?

Rund 80 Prozent der Covid-Patienten in den Spitälern sind älter als 60 Jahre. Der Kanton Tessin verlangt eine «Sensibilisierung» der älteren Bevölkerung.

Im Tessin will man spezielle Einkaufszeiten für Senioren bewerben.
«Ältere Menschen sollten, wenn immer möglich, zu Hause bleiben», sagt Matthias Müller, Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz.
Die Spitäler füllen weiterhin vor allem ältere Covid-Patienten. So wurden innert sieben Tagen 953 über 60-Jährige in Schweizer Spitäler eingeliefert. Etwa 80 Prozent der Spitaleintritte wegen einer Covid-Infektion entfallen auf die Senioren.
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Im Tessin will man spezielle Einkaufszeiten für Senioren bewerben.

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Darum gehts

  • Vor allem ältere Covid-Patienten müssen ins Spital, ein erneuter Lockdown droht.

  • Laut Matthias Müller, Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz, muss der Bundesrat nun an die Senioren appellieren, zu Hause zu bleiben.

  • «Wir dürfen niemanden aufgrund des kalendarischen Datums komplett aus dem öffentlichen Leben verbannen», warnt Pro Senectute.

Die Schweiz steuert erneut auf einen Lockdown zu: Die Spitäler sind an der Kapazitätsgrenze und fürchten einen Anstieg der Fallzahlen nach Weihnachten.

Die Spitäler füllen weiterhin vor allem ältere Covid-Patienten. So wurden laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) seit dem 1. Juni 9720 über 60-Jährige in Schweizer Spitäler eingeliefert. Etwa 80 Prozent der Spitaleintritte wegen einer Covid-Infektion entfallen damit auf die Senioren. Im Verhältnis zu ihrem Anteil in der Bevölkerung werden über 80-Jährige mit Abstand am häufigsten hospitalisiert. Auch das Risiko, in der Folge einer Covid-19-Infektion zu sterben, steigt mit dem Alter massiv an.

«Appell des Staats an über 65-Jährige»

Dass nun erneut ein Lockdown droht, obwohl das Virus vor allem für Ältere tödlich ist, kann Matthias Müller, Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz, nur schwer nachvollziehen. Für ihn sollten die Corona-Massnahmen dort ansetzen, wo das grösste Risiko ist: «Ältere Menschen sollten, wenn immer möglich, zu Hause bleiben. Richtig wäre, wenn der Staat einen klaren Appell dazu an die über 65- oder zumindest die über 75-Jährigen richten würde.»

Die Senioren sollten auf alle sozialen Kontakte und Aktivitäten in ihrem Alltag verzichten, die nicht unbedingt nötig seien, sagt Müller. Er schlägt vor, dass sie die Einkäufe speziellen Anlaufstellen oder jüngeren Menschen überlassen, wie dies bereits im März der Fall war, bis auf weiteres aufs Enkelhüten verzichten und so wenige Leute wie möglich treffen. «Es braucht jetzt einen Beitrag von allen Generationen, auch von den älteren – zum Wohl der Gemeinschaft als eines Ganzen.»

Auf der letzten Durststrecke vor der Impfung sei die Solidarität der älteren Menschen besonders gefragt, so Müller. «Die Jungen leiden auch massiv unter der Krise, nehmen die Einschränkungen aber in Kauf, um so in erster Linie die ältere Bevölkerung zu schützen und einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern.» Je stärker sich die älteren und jüngeren Personen disziplinieren würden, desto rascher könne die Gesellschaft in einen beinahe normalen Alltag zurückkehren.

Tessin will schweizweiten Appell

In der ersten Welle hatte der Kanton Uri gar eine Ausgangssperre für Senioren verhängt, die der Bund aber für unzulässig erklärte. Im Tessin durften Senioren eine Weile nicht mehr einkaufen. Auch jetzt will der Tessiner Regierungspräsident Norman Gobbi (Lega) wieder bei den Risikogruppen ansetzen. Weil 80 Prozent der Hospitalisierten über 60 seien, müsse man unbedingt Massnahmen ergreifen, um die Risikogruppen besser zu schützen. Dies habe der Kanton Tessin auch in seiner Stellungnahme an den Bundesrat gefordert.

Gobbi sagt: «Einige Senioren haben uns gesagt, dass sie keine Einschränkungen wollen und bereit seien, das Risiko zu tragen. Wenn die Spitäler aber an die Grenzen kommen und harte Massnahmen nötig werden, leidet die ganze Gesellschaft darunter.» Eine Möglichkeit sei darum, die ältere Bevölkerung mit einer schweizweiten Kampagne zu sensibilisieren. Der Kanton Tessin plane zudem, Ältere aufzufordern, am frühen Morgen einzukaufen, während Jüngere die Läden dann meiden sollten. Skeptisch ist er gegenüber einem neuerlichen Einkaufsverbot. Dieses sei möglicherweise verfassungswidrig.

«Jeder muss sich jetzt zurücknehmen»

Gegen Massnahmen, die nur die Freiheit der Senioren einschränken, ist Peter Burri von Pro Senectute: «Das Virus kennt keine Altersgrenze. Eine Ausgangssperre für über 65-Jährige wie im Kanton Uri im Frühjahr ist falsch. Wir dürfen niemanden aufgrund des kalendarischen Datums komplett aus dem öffentlichen Leben verbannen, um neue Massnahmen abzuwenden.»

Trotzdem sagt Burri, die Schweiz habe es im Sommer verpasst, die Risikogruppen genügend zu schützen. In Altersheimen gebe es etwa grosse Unterschiede bei den Schutzkonzepten. Alle, auch die Senioren, müssten jetzt einen Beitrag leisten: «Angesichts der sehr angespannten Situation sollten sie sich an die Schutzmassnahmen halten, sich testen lassen und Hilfe etwa beim Einkaufen in Anspruch nehmen.» Die Devise sei klar: «Nur noch aus dem Haus, wenn es sein muss.»

«Jeder muss sich jetzt zurücknehmen»

Burri glaubt, dass die Mehrheit der Senioren aufgrund der hohen Todeszahlen und der vollen Spitäler den Ernst der Lage erkannt habe. Natürlich gebe es renitente Leute, die eine Ansteckung in Kauf nähmen. «Das kann aber nur akzeptiert werden, solange niemand anderes durch die Verbreitung des Virus gefährdet wird.»

Auch Economiesuisse-Chefökonom Rudolf Minsch hält von einem Rückzug der Senioren nichts. «Das Virus kann auch junge Menschen mit Vorerkrankungen schwer treffen.» In der Pandemie sei die Solidarität der gesamten Bevölkerung entscheidend. «Ob jung oder alt: Jeder muss sich jetzt zurücknehmen.»

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