Chur West, Teil 1Leben im Asylheim – ein Selbstversuch
Wie lebt es sich als Asylbewerberin in der Schweiz? 20 Minuten hat sich für einige Tage im Frauentrakt des Erstaufnahme-Zentrums in Chur einquartiert.
Ankunft in Chur West. Check-in im Erstaufnahme-Zentrum Foral. Ein grauer Block in einem Industriequartier. 102 Asylsuchende leben zurzeit hier. Nur ein Viertel davon sind Frauen. Ich bin jetzt eine davon. Sie nehmen meine Personalien auf, schiessen ein Foto für die Akten, drücken mir den Zimmerschlüssel in die Hand, erklären mir die Hausregeln: Keine Drogen, kein Alkohol, keine Männer im Zimmer. Putzdienst um 7 Uhr morgens. 11.70 Franken pro Tag vom Staat – macht für mich 46.80 Franken für vier Tage. Das muss reichen für Essen, Hygieneartikel und Freizeit. Dafür gibts Kondome gratis. Mache ich Ärger, wird mir der Geldbetrag gekürzt.
Im Materialraum bekomme ich ein Fixleintuch, eine Militärdecke, ein Ikea-Kissen, Überzüge. Mein Zimmer liegt im zweiten Stock. Ein Sechserschlag mit drei Kajütenbetten aus Metall und zwei Stühlen. Kaum betrete ich den Raum, eilen zwei Eritreerinnen herbei, heissen mich auf Englisch willkommen und helfen mir, mein Bett zu beziehen.
Alle tragen Finken. «Wie in der Schweiz», denke ich. Ich habe meine vergessen. Eine Frau, die sich als Lea* vorstellt, zieht ihre aus und überreicht sie mir. Dann sitzen wir da, der TV flimmert. Was soll ich sagen: Wie geht es euch? Warum seid ihr da? Ich sei auf Reportage, sage ich. Okay, sagen sie. Wir schweigen. «Trinken wir Kaffee», sagt Lea. Wir trinken Kaffee und essen Popcorn.
Handys und Laptops
Die erste Nacht. Der TV läuft, ich friere etwas, die Decke kratzt. Ich erinnere mich an eine Reportage über ein deutsches Asylheim, die ich kürzlich gesehen habe. Die Betten waren voller Wanzen. Aber so ist es hier nicht. Es ist sauber und ordentlich. Der Kühlschrank im Zimmer surrt, jemand steht auf, jemand geht raus, jemand kommt rein, ein Handy klingelt. Jeder hier hat ein Handy. Einzelne einen Laptop oder eine Digitalkamera. Ich frage mich, woher sie die haben.
Das Licht fällt früh morgens durch das vorhanglose Fenster auf mein Gesicht. Ich stehe auf, gehe ins Bad. Künstliche Haarteile hängen am Badetuchhalter. Ich stehe unter die Dusche. Dort gibt es einen Druckknopf, wie im Hallenbad. Ich habe keinen Föhn und binde die nassen Haare zusammen. «Schnell, schnell», sagt Mila. Wir müssen zum Putzdienst. Aus allen Wohnungen strömen Leute herbei, schnappen sich Eimer und Besen. Ihre Namen werden abgehakt. Denjenigen, die abwesend sind, droht eine Verwarnung oder sie werden sanktioniert. Ich staubsauge und nehme den Boden auf.
Um 08.30 Uhr beginnt der Deutschunterricht. Er findet drei Mal die Woche statt und dauert eine Stunde. Im Alphabetisierungskurs lernen wir heute die Umlaute: «Müüüsli», «Gemüüüse», «Üüübung». Wir wiederholen: «Musli», «Gemuse», «Ubung». Dann lernen wir den Buchstaben Q und das Wort Quadratmeter. Ich stelle mir vor, ich müsste das Wort Quadratmeter auf Tigrinya lernen, der Sprache, die man in Eritrea spricht. Der Unterricht ist der Höhepunkt des Tages.
Ein unerwarteter Hochzeitsantrag
Am Nachmittag regnet es nicht. Wir gehen nach draussen und spielen auf dem Vorplatz Volleyball mit einem Fussball. Ein Mann spricht mich an. Er habe mich gestern bei meiner Ankunft gesehen, sagt er. Er stellt sich vor. Bruno, 22, aus Guinea-Bissau, Ausweis N. Über Senegal sei er in einem Boot nach Spanien geflüchtet. Die Frauen hätten bei der Überfahrt geschrien und gebetet. Er nicht. Zwei Jahre lang lebte er in Spanien und arbeitete dort schwarz. Doch die wirtschaftliche Lage habe sich dort verschlechtert.
«Deshalb versuche ich mein Glück jetzt in der Schweiz.» Ob er denn mit 11.70 Franken pro Tag gut durchkomme, frage ich. «Klar. Ich rauche und trinke nicht. Du musst dir das Geld einfach gut einteilen.» Dann schaut er mich an. «Du gefällst mir. Wir könnten heiraten.» Mir fällt fast das Baby vom Arm, um das ich mich gerade kümmere. Ich lehne ab. Er fragt mich, ob mir schwarze Männer denn nicht gefielen.
Der TV flimmert. Es läuft ein eritreisches Christenmusikvideo in der Endlosschleife. Ich döse. «Kommst du mit einkaufen?», sagt Lea. Ich bin dankbar für die Abwechslung. Früher wurden die Heimbewohner noch bekocht. Doch das wurde eingestellt: «Die Moslems essen kein Schweinefleisch, die Hindus kein Rind. Das wurde zu kompliziert», erklärt Zentrumsleiter Philipp Hermann. Deshalb sei nun jeder selber für sein Essen verantwortlich. Zu dritt machen wir uns auf den Weg zu Aldi, vorbei an den männlichen Asylbewerbern, die seit dem frühen Morgen vor dem Heim herumstehen, vorbei an einem Geschäft für Hochzeitsmode.
Mehl, Zucker, Milch
Die Eritreerinnen legen ihr Geld zusammen. Das machen sie immer. Sie kaufen Mehl, Zucker, Milch, Naturjoghurt, Kekse und eine Packung Binden. Ich kaufe Spaghetti, Rindfleisch, Reibkäse, Fertigrösti, Raclettekäse, Tomaten, Zwiebeln, Twix, Klopapier. Seitdem sich Kinder einen Spass daraus gemacht hatten, mit WC-Papierrollen die Toilette zu verstopfen, werden diese nicht mehr gratis abgegeben. Mein Budget von 48.30 Franken für vier Tage ist eigentlich ausgeschöpft. Doch mein Blick fällt auf ein Kinderbuch. Ich werde es der kleinen Anna schenken, die perfekt hochdeutsch spricht, weil sie den ganzen Tag TV schaut. Anna ist vier und stammt aus Eritrea.
Ärger im Asylheim
Als wir ins Erstaufnahme-Zentrum zurückkehren, wird gerade ein Bewohner in Handschellen von der Polizei abgeführt. Es ist einer der aussergewöhnlich gut gekleideten Nordafrikaner, die laut den Bewohnern immer wieder für Ärger sorgen. Sie würden klauen, pöbeln, provozieren. Erst gestern versuchte ein Eritreerjunge vergebens, sein entwendetes Trottinett zurückzufordern. Um diese Männer in Schach zu halten, hat Zentrumsleiter Hermann beschlossen, die nordafrikanischen Asylsuchenden nicht im ganzen Haus zu verteilen, sondern ihnen einen Stock zuzuweisen. In ihren Wohnungen sehe es manchmal aus, als habe eine Bombe eingeschlagen, erzählt Hermann. «Essen liegt über dem Boden verteilt, abgelaufene Nahrungsmittel werden nicht weggeräumt, es riecht nach Rauch und Alkohol, die Betten sind nicht gemacht.»
Verbündet im Exil
In unserer Wohnung dagegen ist es blitzblank. Als ich vergesse, meine Schuhe auszuziehen, wird der Boden gleich feucht aufgenommen. Lea erklärt mir, dass Eritreer so erzogen werden: «Das Erste, was wir am Morgen machen, ist, das Haus zu putzen. Es muss immer sauber sein.» Meistens halten wir uns in der Küche auf. Dort sitzen wir, plaudern, lachen, reichen das Baby herum, kochen, essen gemeinsam und beten davor. «Wir halten im Exil zusammen. Sonst würden wir vor Einsamkeit und Langeweile verrückt werden», sagt Arzema. Ich schaue aus dem Fenster. Draussen stehen die Männer herum. Einige von ihnen trinken Wein aus dem Tetrapack. Die Frauen vermischen Wasser und Mehl in einem Plastikeimer und backen Brot. Abends sprechen wir darüber, worüber Frauen sich so unterhalten: Über die Liebe, Kinder, Kleider und die Figur. Arzema lackiert sich die Nägel, während ihr die künstlichen Haarteile eingeflochten werden. Die hängigen Asylgesuche oder die politische Lage in Eritrea sind kein Thema. Um 22 Uhr gehen wir zu Bett.
Der Moment des Abschieds. Wir umarmen uns, sie sagen mir, dass sie mich vermissen werden. «I will miss you, too», sage ich und ich lüge nicht. Sie laden mich zum ersten Geburtstag des Babys ein und ich verspreche zu kommen. Die kleine Anna sagt, dass ich nicht länger ihre beste Freundin sei, wenn ich jetzt gehe. Dann gebe ich beim Empfang die Schlüssel ab. Check-out.
Ich löse ein Bahnticket für 34.40 Franken, kaufe mir ein Schinkensandwich für 6.70 Franken und bestelle im Zug einen Kaffee für 4.30 Franken. Abfahrt Richtung Zürich Hauptbahnhof.
*Alle Namen geändert
Lesen Sie morgen die Geschichte einer eritreischen Asylsuchenden, die beschloss, nicht länger eine Soldatin zu sein.
Asylgesetz-Revision
Die Revision des Asylgesetzes, über die das Volk am 9. Juni entscheidet, soll das System der Gesuchsprüfung effizienter machen, ohne den Kern des Flüchtlingsrechts zu berühren. Die neuen Bestimmungen wurden vom Parlament angesichts der stark steigenden Zahl von Asylgesuchen aus einer grösseren Vorlage herausgelöst. Ende September hatte das Parlament die als dringlich erklärten Teile der Revision definitiv verabschiedet, mit dem Ziel das Asylverfahren zu beschleunigen. Im Zentrum stehen unter anderem Zentren für renitente Asylbewerber. So kann der Bund künftig Asylsuchende in einem besonderen Zentrum unterbringen, wenn sie die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden oder den Betrieb eines Asylzentrums erheblich stören. Mehrere linke Organisationen haben letzten Oktober gegen das revidierte Asylgesetz das Referendum ergriffen. dp