Nach geplatztem Rahmenabkommen«Mehr Stromausfälle und verlorene Arbeitsplätze könnten Folgen sein»
Das Rahmenabkommen ist gescheitert. Wirtschaft und Bevölkerung der Schweiz werden das unmittelbar spüren: Eine Expertin skizziert das Best- und das Worst-Case-Szenario.
Darum gehts
Nach sieben Jahren Verhandlungen hat der Bundesrat das Rahmenabkommen beerdigt.
Damit hat er sich laut einer Expertin keinen Gefallen getan: «Die Schweiz setzt damit den erfolgreichen bilateralen Weg aufs Spiel», sagt sie.
Die Bevölkerung könnte das bald zu spüren bekommen – etwa durch häufigere Stromausfälle oder wegfallende Arbeitsplätze.
Der Bundesrat hat das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU definitiv beerdigt. Für Stefanie Walter, Professorin für Internationale Beziehungen und Politische Ökonomie am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Zürich, ist klar: Damit hat er der Schweiz keinen Gefallen getan. Wie stark die Schweiz unter diesem Entscheid leiden werde, hänge davon ab, zu welchen Zugeständnissen die EU bereit sei. Aufgrund eigener innenpolitischer Konflikte sei der Handlungsspielraum der EU aber begrenzt, erklärt sie im Interview.
Das Rahmenabkommen ist nach sieben Jahren Verhandlung vom Tisch. Was bedeutet das für die Schweizer Bevölkerung?
Sofort sind einzelne Branchen vom Entscheid betroffen: Am Mittwoch hat die Medtech-Branche den barrierefreien Zugang zum EU-Binnenmarkt verloren. Wenn die EU jetzt auf hart spielt, könnte auch die Schweizer Bevölkerung direkte Auswirkungen spüren. Letztes Jahr hat es die EU wegen mangelnden Fortschritts beim Rahmenabkommen abgelehnt, die Schweiz bei der EU-Covid-App zu integrieren. Beim grünen Covid-Impf-Zertifikat sieht es besser aus, aber letztendlich ist es immer nicht nur eine technische, sondern auch eine politische Frage, ob die Schweiz bei EU-Lösungen mitmachen kann. Bei anderen Punkten profitiert die Schweizer Bevölkerung einfach nicht von den gleichen Vorteilen wie EU-Bürger. In der EU gibt es etwa keine Roaming-Gebühren mehr, bei uns schon.
Der Bundesrat will die Bilateralen einfach weiterführen. Wird das funktionieren?
Das wäre natürlich das Best-Case-Szenario für die Schweiz. Doch die EU-Kommission hat bereits verlauten lassen, dass das ohne Rahmenabkommen nicht möglich sein wird und die Verträge zwangsläufig veralten werden. Die Schweiz hat mit dieser Entscheidung den erfolgreichen bilateralen Weg auf Spiel gesetzt.
Sie sprachen vom Best-Case-Szenario. Was ist das Worst-Case-Szenario?
Für verschiedene Branchen dürfte es zu Problemen kommen, etwa bei der Produktzertifizierung. Wenn Zertifizierungen nicht mehr als gleichwertig anerkannt werden, werden sich etwa Medtech-Unternehmen mittelfristig eher nicht mehr in der Schweiz niederlassen, sondern gleich in einem EU-Land. Sonst müssten sie ihre Produkte in der Schweiz und danach auch noch in der EU zertifizieren lassen. Damit könnten der Schweiz mittelfristig hochqualifizierte Arbeitsplätze verloren gehen. Ein weiterer Punkt ist das Stromabkommen: Kommt es nicht zustande, könnten Stromausfälle in der Schweiz häufiger werden, weil die Schweiz kein vollwertiges Mitglied im Strommarkt ist.
Überrascht Sie der Entscheid?
Nach den letzten Tagen nicht mehr. Grundsätzlich bin ich aber sehr überrascht über das Verhalten des Bundesrats. Eine Institutionalisierung der bilateralen Beziehungen war ursprünglich eine Idee der Schweiz und die Schweiz hat in den Verhandlungen auch sehr viel rausgeholt. Dass sie nun wegen drei Punkten, bei denen sie nachträglich rote Linien gezogen hat, das ganze Abkommen platzen lässt, scheint mir fragwürdig.
Sie sagen, die Schweiz habe viel herausgeholt. Was genau?
Der bilaterale Weg ist für die Schweiz sehr vorteilhaft. Die Schweiz hatte damit «den Fünfer und das Weggli». Mit dem Rahmenabkommen hätte sie sich das bewahren können: Durch sektorielle Abkommen wird der privilegierte Zugang zu den EU-Märkten gewährleistet, ohne dass die Schweiz der EU oder dem EWR beitreten müsste. Im Streitfall wäre vorhersehbar gewesen, was passiert und welche Gerichtsbarkeit zuständig ist.
Weshalb will die EU die Bilateralen ohne Abkommen nicht weiterführen?
Die EU steht heute viel stärker unter Druck als vor 20 Jahren, als die Bilateralen entstanden. Sie ist auch viel grösser und diverser, sodass eine einheitliche Anwendung des EU-Rechts an Bedeutung gewonnen hat. Bedingung für eine Weiterführung ist daher für die EU die automatische Anpassung des Schweizer Rechts an EU-Recht, welche die Schweiz nun abgelehnt hat. Die Schweizer vergessen oft, dass in Brüssel nicht einfach ein paar «ungewählte Beamten» die Entscheidungen treffen. Die 27 Mitgliedsstaaten haben alle ein eigenes Volk, eigene Parteien – und eigene Konflikte mit der EU. Wenn die EU jetzt sagen würde, dass die Schweiz, ohne EU-Recht zu übernehmen oder der EU beizutreten, weiterhin sämtliche bisherigen Privilegien geboten bekäme, würden schnell Begehrlichkeiten aus EU-Staaten laut. Internationale Verträge funktionieren nur, wenn alle zu Kompromissen bereit sind.
Kann die Schweiz die Bilateralen gar nicht mehr retten, etwa mit der Kohäsionsmilliarde?
Für die EU ist die Kohäsionsmilliarde ein längst fälliger Beitrag, mit dem die Schweiz als
Teilnehmerin am Binnenmarkt ihren Beitrag zum innereuropäischen Ausgleich leistet. Eine
Deblockierung ist sicher atmosphärisch hilfreich, aber die Wahrscheinlichkeit, dass die EU im
Gegenzug auf alle ihre Forderungen verzichtet, halte ich für gering.
Sie sagen, dass die Schweiz mit diesem Entscheid viel verloren habe. Haben wir auch etwas gewonnen?
Ein wichtiger Punkt für die Gewerkschaften war ja der Lohnschutz. Schweizer Arbeitnehmer profitieren hier stark von den flankierenden Massnahmen der Bilateralen. Würde alles so bleiben wie bisher, wäre dies sicher ein Gewinn, zumindest für den Teil der Arbeitnehmenden, die davon profitieren. Mittelfristig will sich die Schweiz nun aber gegen die Konkurrenz aus der EU besser aufstellen. Die FDP hat etwa bereits angekündigt, dass es nun innenpolitische Reformen brauchen werde, um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Das geht oft als erstes zu Lasten der Arbeitnehmerrechte. Letztlich hätten also auch die Arbeitnehmer nicht gewonnen.
Hat der Bundesrat mit dem Entscheid einen Fehler gemacht?
Fehler wurden schon früher gemacht. Etwa, dass das Konsultationsverfahren erst nach Abschluss der Verhandlungen durchgeführt wurde. Ich finde es auch problematisch, dass das Abkommen nie dem Stimmvolk vorgelegt worden ist. Erste Reaktionen von EU-Parlamentariern zeigen, dass die Schweiz auch ihrer Glaubwürdigkeit als Verhandlungspartnerin geschadet hat. Insofern: Ja, insgesamt hat sich die Schweiz mit diesem Entscheid wohl keinen Gefallen getan.
My 20 Minuten
Als Mitglied wirst du Teil der 20-Minuten-Community und profitierst täglich von tollen Benefits und exklusiven Wettbewerben!