Mutter kann nicht mehr: «Seit mein Sohn fünf ist, hat er Wutanfälle – ich weiss nicht weiter»

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Mutter kann nicht mehr«Seit mein Sohn fünf ist, hat er Wutanfälle – ich weiss nicht weiter»

D.B.* gilt als Problemkind. Seit er fünf ist, kämpft er mit Wutausbrüchen und Paranoia. Nach über 15 Stationen in psychiatrischen Einrichtungen und viel Stress mit der Polizei ist seine Mutter verzweifelt. 20 Minuten erzählt sie ihre Geschichte.

Die Mutter des 14-jährigen D.B. ist verzweifelt. (Symbolbild)
Ihr Sohn habe auch sie schon angegriffen, die Probleme mit der Polizei häuften sich. (Symbolbild) 
«Worauf warten wir? Bis mein Sohn jemanden ermordet? Bis er 16 ist und man ihn ins Gefängnis stecken kann?» Die Mutter ist verzweifelt. (Symbolbild)
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Die Mutter des 14-jährigen D.B. ist verzweifelt. (Symbolbild)

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Darum gehts

Vor wenigen Tagen bekam E.B.* die Nachricht, dass ihr Sohn D.* im Internat einen anderen Jugendlichen mit einem Vorhang gewürgt habe. «Ich weiss schon gar nicht mehr, das wievielte Internat das ist, aus dem er rausgeschmissen wird. Jetzt ist er wieder in der Psychiatrie, auch da war er sicher schon 15 Mal. Bei mir stapeln sich die Rechnungen, Beschlüsse, Anzeigen und niemand kann mir helfen. Ich weiss einfach nicht mehr weiter», sagt E.

Ihr Sohn ist heute 14 Jahre alt. Seit er geboren wurde, kam seine Mutter immer wieder an Grenzen. «Es hat schon als Kleinkind angefangen. Er schrie ganze Nächte durch, ich konnte die ersten eineinhalb Jahre keinen Moment von seiner Seite weichen, ohne dass er in Schreikrämpfe ausgebrochen wäre. Er verweigerte früh die Muttermilch und hat es nie geschafft, jemandem in die Augen zu schauen.»

ADHS, Asperger, Schizophrenie

Mit fünf hat D. den ersten Wutanfall. Es folgen viele weitere. Er erhält eine erste Diagnose: ADHS, D. bekommt Ritalin verschrieben. «Das hat alles nur noch schlimmer gemacht. Normalerweise wirkt Ritalin sechs oder sieben Stunden. Mein Sohn war vielleicht eine Stunde ruhiger, danach kam der Rebound-Effekt und er war noch überdrehter als zuvor», sagt die Mutter. Später werden bei D. auch noch Asperger und eine Schizophrenie vermutet. «Es haben schon unzählige Ärzte versucht, herauszufinden, was mit meinem Sohn nicht stimmt. Aber eine exakte Diagnose konnte mir noch niemand geben.»

Nach einer schwierigen Zeit im Kindergarten kommt D. erst in eine Waldschule. Die zweite Klasse soll er in der Regelschule absolvieren. «Sie haben wirklich alles probiert, haben ihm eine eigene Ecke eingerichtet mit Vorhängen, damit er sich schützen kann.» Doch bald kommt es auch da zu Vorfällen. «Er schloss sich im Badezimmer ein und drohte, sich mit einer Schere die Pulsschlagadern aufzuschlitzen. Ein andermal war die Klasse auf einem Ausflug und mein Sohn kletterte auf ein Brückengeländer und wollte sich auf die Zuggleise stürzen.»

Gewalt wird zum Problem

D. kommt in die psychiatrische Universitätsklinik Zürich. Seit der zweiten Klasse besucht er keine Regelklasse mehr. Vom Pestalozzi-Haus über Ambulatorien, begleitete Tagesschulen und Pflegefamilien: Nirgends kann er länger als ein paar Monate bleiben, immer wieder landet er in der Psychiatrie. «Doch auch dort ist er nie lange geblieben. Die Ärzte sagten, mit der richtigen Medikation müsse mein Sohn nicht dauerhaft in einer geschlossenen Psychiatrie bleiben. Doch sobald er wieder in der echten Welt unterwegs war, abseits vom Schutz der psychiatrischen Anstalten, kam er nicht mehr klar und es kam zu Vorfällen.»

Auch mit der Polizei bekommt D. Probleme: Er klaut ein Auto, ist in Schlägereien verwickelt, bedroht andere oder droht, sich selbst etwas anzutun. Immer wieder entwickelt er schwere Angstzustände. «Mit acht oder neun erkannte er auf einmal seine eigene Mutter nicht mehr. Er meinte, ich wolle ihm etwas antun, und wollte sich mit einem Messer gegen mich wehren. Nur mit Mühe gelang es mir, ihn zu beruhigen», erzählt E.

Seither mischt sich neben der Sorge auch Angst um ihr eigenes Leben in ihre Gefühle. «Er ist mit 14 schon 1,85 Meter gross und breit gebaut, ich hingegen bin klein und zierlich. Ich hätte keine Chance. Er hat mich auch schon geschlagen. So leid es mir tut, aber ich habe Angst vor meinem eigenen Sohn.»

Kesb bestimmt über weiteres Vorgehen

E. weiss nicht, wie es weitergehen soll. «Ich kann nicht mehr für meinen Sohn sorgen. Deshalb habe ich die Kesb gebeten, mir das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu entziehen. Jetzt entscheidet die Behörde, wo er als Nächstes platziert wird. Viele Kliniken nehmen ihn schon gar nicht mehr auf, weil sie ihm nicht helfen können.» Weil er erst 14 ist, landen Rechnungen und Anzeigen trotzdem noch bei E. «Ich kann nicht mein Leben aufgeben, weil das System mit dem meines Sohnes nicht klarkommt. Ich brauche Hilfe.»

Die Mutter macht der Kesb keinen Vorwurf, denkt aber, dass auch die Behörden überfordert sind: «Wir hatten jahrelang zweimal in der Woche eine Sitzung, an der mindestens zehn Leute beteiligt waren. Auch über ein Sondersetting für meinen Sohn wurde schon diskutiert.» Nach einer solchen Sitzung sei dann auch der Satz gefallen: «Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber Ihr Sohn ist auf dem besten Weg, der zweite Fall Carlos zu werden.»

Die zuständige Kesb Stadt Zürich äussert sich zum konkreten Fall nicht. Im Interview (siehe unten) sagt Präsident Michael Allgäuer aber: «Der Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts ist der stärkste Eingriff im Kindesschutz. Er kommt nur zum Zug, wenn alle anderen Unterstützungsmassnahmen nicht mehr genügen.»

Der Fall «Carlos»

«Wollen wir warten, bis er jemanden tötet?»

E. betont: «Ich gebe niemandem die Schuld und weiss, dass ich als Mutter in erster Linie in der Verantwortung stehe. Ich habe getan, was ich konnte, und viele Menschen haben versucht, meinem Sohn zu helfen. Doch ich habe das Gefühl, dass es die Art von Betreuung, die er brauchen würde, in der Schweiz gar nicht gibt.» Mittlerweile dominieren Verzweiflung und Ohnmacht E.s Leben: «Ich frage mich, was noch passieren muss. Warten die Behörden darauf, dass mein Sohn endlich 16 wird und ins Gefängnis geschickt werden kann? Dass er jemanden tötet?»

Für E. sähe die optimale Lösung so aus, dass ihr Sohn zwar 24 Stunden am Tag betreut und unter Aufsicht wäre. «Trotzdem braucht er eine Beschäftigung, eine Arbeit und soziale Kontakte. Auch eine adäquate psychiatrische Betreuung wäre nötig, mit den richtigen Medikamenten. Ich bin überzeugt, dass mein Sohn im richtigen Setting ein friedfertiges, erfülltes Leben leben kann. Bisher haben wir dieses aber leider noch nicht gefunden.»

*Namen der Redaktion bekannt.

Update 19. April 12 Uhr: Das Verteidigungsteam von Brian, ehemals bekannt als Fall Carlos, betont, dass dieser nichts mit dem vorliegenden Fall zu tun hat: «Der sogenannte ‘Fall Brian’ ist die Geschichte des Versagens von Behörden und Justiz. Brian wurde zum Opfer von jahrelanger Isolationshaft und Menschenrechtsverletzungen. Dass es soweit kommen konnte, ist auch die Folge verantwortungsloser medialer Berichterstattung», sagt Rechtsanwalt Philip Stolkin. 20 Minuten hat die Gerichtszeichnung von Brian deshalb aus dem Artikel entfernt. 

«Es gibt lange Wartelisten, das ist sehr ärgerlich»

Hast du oder hat jemand, den du kennst, eine psychische Erkrankung?

Hier findest du Hilfe:

Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858

Kinderseele Schweiz, Beratung für psychisch belastete Eltern und ihre Angehörigen

Verein Postpartale Depression, Tel. 044 720 25 55

Angehörige.ch, Beratung und Anlaufstellen

VASK, regionale Vereine für Angehörige

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143

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