Alt Botschafter Toni Frisch: «Mit Putin verhandeln? Ja – mit einer Einschränkung»

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Alt Botschafter Toni Frisch«Mit Putin verhandeln? Ja – mit einer Einschränkung»

Den russischen Angriffskrieg in der Ukraine findet der ehemalige Botschafter Toni Frisch «paradox». Er verurteilt Wladimir Putin klar als Lügner, mit dem man aber weiter zu verhandeln versuchen solle. 

Alt Botschafter Toni Frisch: «Ein ukrainischer Sieg und die Rückeroberung des ganzen Landes ist meines Erachtens völlig illusorisch.»
Ems-Chefin Magdalena Martullo-Blocher und andere fordern Friedensverhandlungen mit Putin. Auch Toni Frisch spricht sich für Verhandlungen aus – «aber mit der Einschränkung, dass man Wladimir Putin nicht weit entgegenkommen darf». 
Da die Schweiz die Russland-Sanktionen des Westens mitträgt, sieht SVP-Übervater Christoph Blocher die Neutralität des Landes gefährdet.
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Alt Botschafter Toni Frisch: «Ein ukrainischer Sieg und die Rückeroberung des ganzen Landes ist meines Erachtens völlig illusorisch.»

EDA

Darum gehts

Herr Frisch, soll die Ukraine auf den Donbass verzichten, um den Krieg zu beenden? 

Meiner Meinung nach sollte der ukrainische Präsident Selenski eine Volksbefragung machen. Er müsste von einer Mehrheit des Volkes hören, dass es Frieden will und diesen Preis zu zahlen bereit ist. Er selbst kann diese Entscheidung nicht treffen, das würde ihn das Amt kosten. Ich wäre ja schon froh, wenn die Ukraine nur die Gebiete verliert, die jetzt von Russland besetzt sind, und es überhaupt noch eine freie Ukraine geben wird. Denn das ist alles andere als sicher.

Wieso ist das «alles andere als sicher»?

Putin hat Zeit. Er wird weiter versuchen, das Land systematisch zu unterwandern und eine russlandfreundliche Regierung einzusetzen. Das wird weitergehen, auch wenn die Angriffe eingestellt werden sollten. Es ist grauenhaft, ernüchternd und erschütternd.

Wird Putin denn Ruhe geben, wenn er den Donbass kriegt? 

Das grösste Paradox für mich in diesem Krieg: Wladimir Putin, klar ein Lügner, spricht von der «Befreiung» der Russischstämmigen im Donbass. Aber er schiesst alles kaputt und zwingt diese Menschen in die Flucht. Somit ist klar, dass er das Land ruinieren will. Ich befürchte deswegen, dass Putin auch Odessa einnehmen und die Ukraine zu einem Binnenland machen will. Dass die ukrainische Armee in der Lage ist, die eroberten Gebiete wieder zurückzugewinnen, kann ich mir nicht vorstellen. Ich war überrascht, wie an der Ukraine-Konferenz in Lugano die Vertreterinnen und Vertreter der Ukraine von einem «ukrainischen Sieg» sprachen und davon, das ganze Land zurückzuerobern. Das ist meines Erachtens völlig illusorisch. 

«Obwohl man weiss, dass Putin lügt, darf man Brücken nicht abbrechen.»

Toni Frisch

Soll man weiter versuchen, mit Putin zu verhandeln?

Ja. Aber mit der Einschränkung, dass man ihm nicht weit entgegenkommen darf. Entgegenkommen ist für ihn eine Schwäche, er versteht aber nur die Sprache der Stärke und der Macht. Entsprechend müssen wir uns verhalten. Obwohl man weiss, dass er lügt, darf man Brücken nicht abbrechen, sondern man muss neue bauen.

Das kann man auch als Appeasement-Politik gegenüber Moskau kritisieren. 

Nein. Denn eine Appeasement-Politik wäre, wenn der Westen – angesichts der weiterhin hohen Benzinpreise und zunehmenden Inflation, Uneinigkeit und Kriegsmüdigkeit unter den EU- und Nato-Mitgliedern  – die Unterstützung der Ukraine überdenken würde. Oder wenn man Putin gegenüber signalisieren würde, dass Finnland und Schweden doch nicht so schnell Nato-Mitglieder werden würden. Oder wenn man die Sanktionen rasch und zumindest teilweise abbauen würde, solange Putin im Gegenzug zu Friedensverhandlungen bereit wäre, ganz ohne weitere Vorbedingungen des Westens. Appeasement wäre auch, wenn sich die Schweiz derlei anschliessen und Verständnis zeigen würde. 

Hart bleiben oder Friedensverhandlungen anstreben? 

Kann man nach allen Lügen überhaupt darauf vertrauen, dass Putin sich an Abmachungen halten wird?

Schon Hitler sagte: Verträge werden eingehalten, solange sie uns dienen. Ich befürchte, dass Putin das auch so sieht. Dennoch muss es einmal Verhandlungen geben, daran führt kein Weg vorbei. Und hier kann die Schweiz eine treibende Kraft sein und eine konstruktive Rolle spielen. 

Was kann die Schweiz denn konkret tun? 

Die Schweiz muss – stets an ihre Neutralität erinnernd – die Sanktionen weiterhin entschlossen mittragen, trotz einiger Stimmen aus dem Volk, die Einschränkungen würden langsam unerträglich, es habe nun genug Flüchtlinge in der Schweiz. Bundesrat und Parlament sollten hier standfest bleiben. Auch sollte die Schweiz zur Umsetzung der Lugano-Deklaration aufrufen und selbst mit gutem Beispiel vorangehen. 

«Wenn das Neutralität ist, finde ich es verachtungswürdig.»

Toni Frisch

Wie denn mit gutem Beispiel vorangehen? 

Indem man die Missachtung der kriegsvölkerrechtlichen Grundsätze weiterhin deutlich kritisiert, sich massiv für die humanitäre Hilfe in der Ukraine einsetzt und gleichzeitig die Ostzusammenarbeit verstärkt. Die Schweiz soll ihre guten Dienste und Vermittlerrolle, wo angezeigt, weiterhin anbieten – formell und informell – , den Dialog mit den Parteien suchen und stets für einen Waffenstillstand und Verhandlungen appellieren. Vielleicht könnte die Schweiz sich sogar um ein «Schutzmachtmandat» bemühen.  Auf jeden Fall kann und wird sich die Schweiz inskünftig auch im UNO-Sicherheitsrat gezielt einbringen.

Apropos Schweiz: Haben wir unsere Neutralität aufgegeben, weil wir die Sanktionen der EU gegen Russland mittragen? 

Nein, keinesfalls! Solche Aussagen finde ich lächerlich. Neutralität heisst: Niemanden angreifen, keinen Krieg beginnen, gegenüber den Schwachen solidarisch sein und sich für Frieden und Menschenrechte einsetzen. Unsere Neutralität darf nicht zum Mythos stilisiert werden, so wie es Christoph Blocher gerne tut, um sich zu profilieren. Man darf die Neutralität nicht so verstehen, dass alles, was um einen herum geschieht, egal ist. Auch bedeutet Neutralität nicht, dass man seine Geschäfte mit Russland einfach weiter abwickeln kann – wenn das Neutralität ist, finde ich es verachtungswürdig.

«Vielleicht braucht es noch mehr Flüchtlinge in der Schweiz, damit den Leuten die Augen aufgehen.» 

Toni Frisch

Viele denken, dieser Krieg gehe sie nichts an. Wie ist zu vermitteln, dass es tatsächlich um die Sicherheit und Stabilität in ganz Europa geht? 

Es kann nicht angehen, dass wir mitten in Europa mit der Ukraine einen Failing State haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es den Marshallplan, der Deutschland rettete und das Wirtschaftswunder ermöglichte. Jetzt braucht es einen neuen Marshallplan, diesmal für die Ukraine – oder was von ihr dann noch übrig sein wird. 

Kommt dazu: Wenn man als unmittelbares Grenzland so nahe bei Russland und diesem völlig unberechenbaren Mann ist, ist das doch klar eine Destabilisierung für die Sicherheit Europas. Und die Flüchtlinge, die kamen und noch weiter kommen werden, sind ein weiterer Faktor, der Europa unter Druck setzt. Ganz zu schweigen von der Energie- und Getreideproblematik. Kurzum: Der Krieg hat globale Folgen und geht entsprechend alle etwas an. Wenn Politiker dies dem Volk nicht erklären können, würden sie versagen. Oder vielleicht braucht es noch mehr Flüchtlinge in der Schweiz, damit den Leuten in ihrem Wohlstand die Augen aufgehen. 

Alles in allem: Hat der Westen richtig reagiert?

In meinen Augen schon. Auch wenn die Sanktionen nicht die gewünschte Wirkung haben, hatte man kaum eine andere Wahl, als zu diesem Instrument zu greifen. Es ist das einzige nicht-kriegerische Mittel, das wir haben. 

«Lawrow war in der Diplomatie das, was ein Messi oder Ronaldo im Fussball ist.»

Toni Frisch

Sie kennen den russischen Aussenminister Sergej Lawrow gut. Erzählen Sie aus dem Nähkästchen? 

Lawrow war in der Diplomatie und Aussenpolitik das, was ein Messi oder Ronaldo im Fussball ist. Er hat eine beeindruckende Präsenz und Strahlkraft, war stets enorm dossiersicher und sehr präzise. Heute muss er vorbehaltlos hinter Putin stehen, sonst würde er abgesetzt oder noch Schlimmeres. Stichworte: Sibirien oder «Unfall». Dennoch: Um richtige Friedensverhandlungen führen zu können, müsste Lawrow abtreten – wohl zusammen mit Präsident Putin, Dimitri Medwedew, dem Vizechef des russischen Sicherheitsrates, und Verteidigungsminister General Sergei Schoigu. 

Gehören Putin, Lawrow und Co. vor Gericht?

Ja. Das sind Kriegsverbrecher. Nur wird es nie soweit kommen.

Wieso eigentlich nicht?

Je grösser das Verbrechen, desto tiefer die Bestrafung. Niemand wird durchsetzen können, einen Putin oder Lawrow vor ein Kriegsgericht zu stellen. Ich bete ja schon lange, dass Putin vom Blitz erschlagen wird – aber er trifft ihn einfach nicht. 

Frisch kennt die Ukraine aus dem Effeff

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