Experten besorgt«Modekrankheit» ADHS – Konsum von Ritalin um die Hälfte gestiegen
Schweizerinnen und Schweizer nehmen immer mehr Ritalin. Die Krankenkassen berichten von Rekordzahlen bei Verschreibung von ADHS-Medikamenten. Experten schlagen Alarm.
Darum gehts
Impulsivität, übersteigerter Bewegungsdrang und Konzentrationsschwäche: Deuten Kinder und Erwachsene zu solchen Symptomen hin, ist die ADHS-Diagnose nicht mehr weit entfernt.
Nun schlagen Krankenkassen Alarm: Noch nie wurden in der Schweiz mehr ADHS-Medikamente verschrieben als jetzt. Im Vergleich: Vor fünf Jahren liessen sich gemäss einer Mitteilung der Krankenkasse Swica knapp 40 000 Menschen mit Ritalin oder ähnlichen Wirkstoffen behandeln. Im letzten Jahr waren es rund 59 000 Menschen . «Die genaue Ursache für den Anstieg können wir aus unseren Zahlen nicht ableiten», sagt Eva Blozik, Versorgungsforscherin bei der Swica. Es sei aber durchaus denkbar, dass die Pandemie Familien und ADHS-kranke Kinder besonders belastet habe und daraus ein gestiegener Behandlungsbedarf entstanden sein könnte. «Mit weiteren Analysen sollte man diese Beobachtung bestätigen und gegebenenfalls näher untersuchen», sagt Blozik. Auch andere Krankenkassen bestätigen gegenüber 20 Minuten, dass mehr ADHS-Medikamente verkauft werden.
Eine der Ursachen für diesen Anstieg ist laut Thomas Müller von der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS der Leistungsdruck in unserer Gesellschaft. «Die Gesellschaft hat es nötig, sich mit Medikamenten zu optimieren.» Dabei würden sich Erwachsene oder die Eltern der Kinder mit ADHS vielfach gegen eine medikamentöse Behandlung aussprechen. «In den allermeisten Fällen ist die Behandlung mit Medikamenten aber gerechtfertigt», sagt Müller.
Doch laut dem Experten gibt es auch Fehldiagnosen. Diese entstünden durch die enorme Anzahl an Abklärungen. «Es lassen sich heute viel mehr Menschen auf ADHS untersuchen als noch vor 15 Jahren», sagt Müller. Denn nicht nur der Leistungsdruck, sondern auch die Sensibilisierung gegenüber der Störung führe zu den vielen Diagnosen.
Was ist ADHS?
Die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung sei zu einer Modekrankheit geworden. «Das hat damit zu tun, dass die Krankheit stärker in das Bewusstsein der Gesellschaft gerückt ist», sagt Müller. Mitverantwortlich für die Sensibilisierung der Krankheit seien nicht nur Radio und Fernsehen, sondern auch Social Media. Das zeigt auch ein Blick auf die Videoplattform Tiktok. Dort ist ein regelrechter ADHS-Hype auszumachen. In diversen Videos berichten junge Menschen darüber, wie sie ihre ADHS-Erkrankung bemerkt hätten.
Diesen Hype nehmen laut Susanne Walitza, Kinder- und Jugendpsychiaterin der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, auch Erwachsene wahr. Sie begründet den Anstieg von medikamentösen Behandlungen so: «Vor 15 Jahren glaubte man, dass ADHS mit der Zeit ‹herauswachse›. Jene, die damals noch Kinder waren, lassen sich nun im Erwachsenenalter auf ADHS untersuchen.» Walitza ist wichtig zu betonen, dass in der Schweiz derzeit nicht mehr Menschen an ADHS erkranken. «Bei Kindern ist die Erkrankung stabil und auch die Bezugsmenge an Medikamenten bei Kindern ist gleich.»
«Müssen uns andere Behandlungsmöglichkeiten überlegen»
Gesundheitsexperte Felix Schneuwly findet die drastische Zunahme erschreckend: «Wenn das Phänomen weiter zunimmt, müssen wir uns andere Behandlungsmöglichkeiten überlegen. Es kann nicht sein, dass eine gesamte Gesellschaft medikamentös eingestellt wird. Wir haben ein gesellschaftliches Problem mit psychischen Belastungen und Krankheiten, welches wir nicht nur mit Medizin lösen können», sagt Schneuwly. Es brauche eine Debatte über Leistungsanforderungen und Verhaltensnormen sowie über schulische und ausserschulische Erziehung.
«Es kann eine Abhängigkeit entstehen»
Auch Philipp Ramming, ehemaliger Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie, macht die Entwicklung Sorgen: «Ritalin kann helfen, muss aber immer durch beraterische und therapeutische Massnahmen begleitet werden.» Seit Jahren und durch Corona noch verstärkt seien die Kinder- und Jugendpsychologen aber überlastet. Die Betreuung sei nicht mehr immer adäquat gewährleistet. «Würden die Fachpersonen besser entlohnt, sodass sie mehr Zeit hätten, käme es mit grosser Wahrscheinlichkeit zu weniger Verschreibungen von Ritalin.»
Aufgrund der Überbelastung bleibe den Fachpersonen oft nichts anderes übrig, als das Medikament ohne Therapie zu verschreiben. «Das ist dann eine absolute Lotterie. Es kann helfen, es kann aber auch dazu führen, dass über Jahre nur die Symptome bekämpft werden und eine psychische Abhängigkeit vom Medikament entsteht», sagt Ramming.
Hast du oder hat jemand, den du kennst, eine psychische Erkrankung?
Hier findest du Hilfe:
Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858
Kinderseele Schweiz, Beratung für psychisch belastete Eltern und ihre Angehörigen
Verein Postpartale Depression, Tel. 044 720 25 55
Angehörige.ch, Beratung und Anlaufstellen
VASK, regionale Vereine für Angehörige
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143