Tochter kam nicht zurückMonate statt Wochen – ukrainische Mutter holt Dascha (15) aus russischem Camp
Taisia Dozmugaeba (32) erlaubte ihrer Tochter, für drei Wochen in ein russisches Ferienlager zu reisen. Sie sollte Dascha über vier Monate lang nicht mehr wiedersehen.
Darum gehts
Ferienlager für Kinder und Jugendliche haben in der Ukraine und in Russland lange Tradition.
Auch Dascha (15) wollte in ein Sommercamp an der russischen Schwarzmeerküste.
Aus den ursprünglich geplanten drei Wochen wurden über vier Monate – die Verantwortlichen des Lagers weigerten sich, die Kinder zurückzuschicken. Angeblich aus Sorge um ihre Sicherheit.
Bäuerin Taisia musste zu aussergewöhnlichen Mitteln greifen, um ihre Tochter zurückzuholen.
Ukrainische Kinder und Jugendliche sollen aus den von Russland besetzten Gebieten systematisch auf die Krim oder ins russische Kernland gebracht worden sein. Auch die Sommerlager dürften Teil dieser Initiative des Kremls sein.
Der Internationale Strafgerichtshof hat deswegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin zur Fahndung ausgeschrieben.
«Meine Dascha sollte drei Wochen im russischen Sommerlager in Gelendschik am Schwarzen Meer bleiben. Vom 28. August bis zum 19. September», erzählt Taisia Dozmugaeba (32). Doch die Tochter kam nicht mehr zurück. Taisia erfuhr irgendwann, dass die 15-Jährige in ein anderes Lager gebracht worden war.
Mitte Dezember hatte ihre Angst ein Ende: Sie konnte die Tochter wieder in die Arme schliessen. Aber nur, weil sie zusammen mit anderen Müttern ihr Kind höchstpersönlich in Russland abholte.
Dafür musste die alleinerziehende Kleinbäuerin aus dem Dorf Nechwolodiwka, die den Oblast Charkiw noch nie verlassen hatte, eine lange Reise auf sich nehmen: über Polen nach Belarus und schliesslich nach Russland.
Wer schickt sein Kind zum Feind in die Ferien?
Dass sie wieder in die Ukraine zurückkehren würden, war nicht selbstverständlich. «Bei der Einreise fragte man uns beim russischen Grenzübergang, ob wir wüssten, dass dies eine Einweg-Fahrt werde.»
Aus Nechwolodiwka waren im August sieben Kinder im Alter zwischen 13 und 15 Jahren nach Russland gereist – zusammen mit zwischen 300 und 400 Kindern und Jugendlichen aus der gesamten Region Kupjansk. Von ihnen sind bis heute nicht alle zurückgekehrt.
Mehrwöchige, kostenlose Ferienlager für Kinder und Jugendliche haben in der Ukraine und in Russland lange Tradition. Dennoch fällt es schwer, den Entscheid nachzuvollziehen: Wer schickt sein Kind für Ferien in das Land des Aggressors und Feindes? Die Mutter seufzt auf.
Wohlbehalten und braungebrannt
«Dascha wollte das unbedingt. Sie hatte noch nie das Meer gesehen und alle ihre Freundinnen aus dem Dorf durften gehen. Sie quengelte so lange, bis ich nachgab.» Ausserdem: Ihr Dorf sei gleich zu Anfang des Angriffs von russischen Truppen besetzt worden, die Front war stets nahe, der Krieg mit seinen Explosionen und Gefechten allgegenwärtig. «Die Kinder sollten die Chance haben, sich zu erholen», sagt Taisia.
Vor allem seien Kinder aus der Region wohlbehalten und braungebrannt aus dem russischen Tourismus- und Erholungszentrum der russischen Schwarzmeerküste zurückgekommen. Doch als die ukrainischen Truppen Kupjansk am 10. September zurückerobert hatten, begannen sich Probleme rund um die Rückkehr der Kinder abzuzeichnen.
In ein anderes Lager gebracht
Dascha, die ihrer Mutter regelmässig berichtete, wie schön alles sei, dass sie gut behandelt werde und es lustig habe, erklärte ihrer Mutter nun, dass die russischen Verantwortlichen des Camps sie nicht zurückschicken wollten, weil Krieg herrsche und man sich um ihre Sicherheit sorge. «Doch Krieg hatten wir zuvor auch schon. Aber jetzt waren unsere Region und unser Dorf wieder ukrainisch – daran lag es wohl», so Taisia.
Der Tag der geplanten Heimkehr verstrich, weitere Tage und Wochen reihten sich daran, es wurde Oktober. «Dann erzählte mir Dascha, dass sie in ein anderes Lager in Anapa gebracht worden waren, weil das Wetter kälter wurde und es dort geheizte Zimmer gab. Die Kinder hatten ja nur Sommersachen dabei.»
Russische Staatsbürgerschaft gegen ein Leben in Frieden?
Es war der Moment, in dem ihr und den anderen Müttern aus Nechwolodiwka klar wurde, dass sie etwas unternehmen mussten. Denn: «Wohin würde man die Kinder als Nächstes bringen?»
Besonders beunruhigt haben sie die Angebote, welche die Camp-Verantwortlichen und sogar der Bürgermeister von Anapa den Kindern gemacht hätten: «Sie liessen ausrichten, dass wir die Kinder mit den nötigen Papieren jederzeit abholen könnten. Dass die russische Staatsbürgerschaft auf uns wartete und dass wir alle in Russland leben könnten, wo Frieden herrsche. Keine von uns hat das auch nur in Erwägung gezogen. Denn Heimat ist Heimat. Wir wollten nur unsere Kinder zurück.»
«Nicht jeder in Russland ist schlecht»
Die Frauen aus Nechwolodiwka beantragten Reisepässe und realisierten, dass die Kosten für die geplante Reise ihre Mittel weit überstiegen. Nur mit der Hilfe der Nichtregierungsorganisation «Save Ukraine» sei es möglich gewesen, dass Anfang Dezember zwei Busse Kurs Richtung Polen, Belarus und schliesslich Russland nahmen. Alles in allem waren sie zehn Tage unterwegs.
«Ja, es war riskant», erinnert sich die Kleinbäuerin. «Die Leute von ‹Save Ukraine› rieten uns: ‹Sagt nicht, dass ihr die Kinder abholt, sondern dass ihr sie nur besuchen wollt. Bietet man euch die Staatsbürgerschaft an, tut so, als ob ihr euch das wirklich überlegt.›» Rückblickend sagt die Bäuerin aus Nechwolodiwka: «Nicht jeder in Russland ist schlecht. Ein russischer Grenzwächter riet uns, bei der Ausreise einen anderen Übergang als bei der Einreise zu wählen. Er verstand unsere Situation.»
Russland wird beschuldigt, Tausende ukrainische Kinder und Jugendliche zwangsumgesiedelt zu haben (siehe Box). Auch die Sommerlager dürften Teil einer umfassenderen politischen Initiative des Kremls sein, gerade Ostukrainer zu indoktrinieren und so weitere Voraussetzungen für die russische Annexion zu schaffen.
Internationaler Strafgerichtshof
Deportierte Kinder: Wladimir Putin zur Fahndung ausgeschrieben
Ukrainische Kinder und Jugendliche sollen aus den von Russland besetzten Gebieten systematisch auf die Krim oder ins russische Kernland gebracht worden sein. Dort sollen sie bei Pflegefamilien unterkommen und umerzogen werden, bis sie ihre Heimat und alles Ukrainische vergessen. Die UNO rechnet mit etwa 1800 Verschleppten, die US-Universität Yale geht von mindestens 6000 aus und die ukrainische Regierung spricht sogar von 14’000.
Die grossen Unterschiede bei den Zahlen sprechen für sich: Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Doch der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, der in dieser Sache bereits seit einem Jahr ermittelt, ist sicher: Es gibt «unrechtmässige Deportationen» von ukrainischen Kindern auf russisches Territorium. Dafür macht der Strafgerichtshof den russischen Präsidenten Wladimir Putin «persönlich verantwortlich». Putin ist deswegen am Freitag zur Fahndung ausgeschrieben worden.
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