Angriff auf die UkraineMoskau will Sieg bis zum 9. Mai – ist das realistisch und was heisst «Sieg»?
Die russische Armee hat im Osten des Nachbarlandes dutzende Luftangriffe geflogen. ETH-Sicherheitsforscher Niklas Masuhr zur neuen Phase im Ukrainekrieg.
Darum gehts
Kiew redet vom Auftakt zur «Schlacht um den Donbass», der russische Aussenminister Sergej Lawrow von einer neuen Phase der «Spezialoperation»: Russland hat im Osten der Ukraine mit umfangreichen Beschuss einzelner Gebiete an der Front sowie von Zielen im Hinterland begonnen.
Wichtig ist für Russland die Hafenstadt Mariupol, deren verbissener Widerstand einen Teil der russischen Truppen seit über einem Monat an sich bindet. Doch wie lange kann sich die Stadt am Schwarzen Meer noch halten? «Es geht um Tage, möglicherweise um Stunden», sagt ETH-Sicherheitsforscher Niklas Masuhr.
«Der erste russische Sieg überhaupt»
Die Einnahme Mariupols würde zwar nicht massiv russische Truppen freisetzen. «Aber sie würde Russland erlauben, einen gesicherten Korridor von der Krim bis in die Kampfzone des Donbass zu etablieren. Auch psychologisch wäre diese für Russland wichtig – es wäre der erste russische Sieg in diesem Krieg überhaupt.»
Die Meinungen der Militärstrategen über die russischen Erfolgsaussichten bei der Offensive in der Ostukraine gehen auseinander. Obgleich begrenzte Erfolge möglich seien, bezweifelt das amerikanische Institute for the Study of War (ISW), dass angesichts des Zustands der beteiligten russischen Truppen auch grössere Fortschritte erzielt würden.
Viele Probleme bleiben
Die effektive Kampfkraft der taktischen Bataillonskampfgruppen (BTGs) sei in Tat und Wahrheit gering. Die Einheiten, die zuvor rund um Kiew teils schwere Verluste erlitten, seien bestenfalls notdürftig aufgefüllt und dann ohne jede Pause in den Donbass verlegt worden. Kommen laut ISW die schlechte Kampfmoral und weiterhin ungelöste Probleme bei der Logistik der russischen Truppen dazu.
«Russland hat neben den Soldaten, die bereits mobilisiert wurden, keine weitere tiefgreifende Mobilisierung durchgeführt», sagt auch Sicherheitsanalyst Masuhr. «Es wurden also nicht massenweise Reservisten einberufen. Die Truppen, die jetzt unseren Informationen zufolge im Donbass verfügbar sind, sind jene, die bereits 2021 und zu Beginn des Krieges dort zusammengezogen wurden. Die Verfügungsmasse wurde also nicht massgeblich vergrössert.»
«Russische Lernfähigkeit nicht ausser Acht lassen»
Gleichzeitig sei unklar, wie viele Truppen die Ukraine von Kiew und aus den nördlichen und nordöstlichen Gebieten mittlerweile in den Osten verlegt habe. «Und wir wissen sehr wenig über den Zustand der ukrainischen Truppen im Donbass - von dieser Kriegsfront haben wir allgemein am wenigsten Informationen.» Das russische Militär werde fortan versuchen, «eher so zu kämpfen, wie es auch trainiert» – was man gerade bei der Eröffnung des Krieges weniger getan habe.
Doch auch wenn es einige Problembereiche wie Kampfkraft der BTGs, Truppenmoral und Logistik gebe, sei immer noch offen, inwieweit sich Russland an diesen Krieg anpassen könne und werde. «Auf jeden Fall würde ich die Lernfähigkeit der russischen Streitkräfte nicht ausser Acht lassen», so Masuhr. «Es ist durchaus möglich, dass Russland nun langsamer, methodischer und mit sehr viel mehr Feuerkraft operieren und ihre Bodentruppen besser auf die Artillerie abstimmen wird».
Erfolg bis zum 9. Mai?
In einem vertraulichen Nato-Papier heisst es, der neue Oberbefehlshaber Alexander Dwornikow wolle bis zum 9. Mai einen Sieg über die Ukraine erringen, egal wie. Dann feiert Russland seinen Sieg im Zweiten Weltkrieg und lässt sein Militär in Megaparaden über den Roten Platz defilieren. Umso wichtiger wären bis dann Erfolgsmeldungen aus der Ukraine.
«Ich bin skeptisch, ob der Tag eine so grosse Rolle spielt», sagt dagegen Masuhr. Man könne mit geringeren Zielen Erfolge deklarieren, ohne dass der Oblast des Donbass bis dahin in fester russische Hand sei.
Ohnehin: «Es war immer die grosse Frage, was Putin meint, wenn er vom Donbass spricht: Meint er damit den ukrainischen Oblast Donbass oder ein willkürlich gezogenes Konstrukt?», so Masuhr und antwortet sogleich: «Am Ende des Tages, so denke ich, kann Russland jeden Geländegewinn ab einer gewissen Skala als Sieg verkaufen.»