«Muss arbeiten, als wäre ich fertig mit der Lehre»

Aktualisiert

Sorgen der Lernenden«Muss arbeiten, als wäre ich fertig mit der Lehre»

Eine Umfrage zeigt, mit welchen Belastungen Lernende kämpfen. «Ich muss arbeiten, als wäre ich schon fertig mit der Lehre», sagt ein Automobilfachmann.

von
P. Michel
Laut einer Befragung der Pädagogischen Hochschule St. Gallen spüren viele Lernende Zeitdruck und hohe Anforderungen.
«Es ist viel Zeitmangel vorhanden, mit dem ich nicht immer klarkomme. Durch Personalmangel entsteht noch mehr Stress»: So erklärte eine Lernende Fachfrau Gesundheit den Druck an ihrem Arbeitsplatz.
«Ich muss arbeiten, als wäre ich fertig mit meiner Lehre. Ich darf zwar fragen, wenn Fragen auftauchen, aber ich muss die Zeiten einhalten», sagt ein Automobilfachmann.
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Laut einer Befragung der Pädagogischen Hochschule St. Gallen spüren viele Lernende Zeitdruck und hohe Anforderungen.

PHSG

Was bewegt Lernende während ihrer Berufslehre? Das will die Pädagogische Hochschule St. Gallen in ihrer Befragung «Lebenswelten» herausfinden. Ein erster, unveröffentlichter Zwischenbericht liegt nun vor. Die bereits ausgewerteten Daten von 953 Befragten aus der Ostschweiz aus den Berufen von Kauffrau über Heizungsinstallateur bis hin zur Polymechanikerin zeigen: Die Lehre ist für viele kein Zuckerschlecken.

So stimmen mehr als 60 Prozent der Lernenden der Aussage, bei der Arbeit häufig unter Zeitdruck zu stehen, mit «teilweise» bis «völlig» zu (siehe Grafik oben). Jeder Zehnte gibt an, es stimme völlig, dass er mehr Verschnaufpausen brauche. Die jungen Berufsleute sehen sich zudem mit grossen Ansprüchen konfrontiert: Mehr als die Hälfte findet, es stimme «teilweise» bis «völlig», dass an sie zu hohe Anforderungen gestellt würden.

In der Befragung äusserten sich die Lernenden auch konkret dazu, wie sie den Druck im Arbeitsleben wahrnehmen. Eine Auswahl:

«Ich muss arbeiten, als wäre ich fertig mit meiner Lehre. Ich darf zwar fragen, aber ich muss die Zeiten einhalten.»

- Automobilfachmann, 1. Lehrjahr

«Es ist viel Zeitmangel vorhanden, mit dem ich nicht immer klarkomme. Durch Personalmangel entsteht noch mehr Stress.»

Fachfrau Gesundheit, 1. Lehrjahr

«Es gibt keine Verschnaufpausen, ich muss konstant an vielen verschiedenen Aufgaben arbeiten. Viele Überstunden, den ganzen Tag weg von zu Hause sein.»

Grafikerin, 3. Lehrjahr

«Unter Zeitdruck arbeiten, Schule und Arbeit unter einen Hut zu bekommen. Allen gerecht zu werden, sei es den Patienten oder der Berufsbildnerin, Angehörigen und Lehrerinnen.»

Fachfrau Gesundheit, 2. Lehrjahr

Andrea Ruckstuhl betreut mit seinem Mentoringprogramm Jobcaddie Jugendliche, die mit dem Chef oder der Lehre allgemein Probleme haben. Der Eintritt in die Lehre stelle für Jugendliche, einen drastischen Einschnitt dar. «Sie wollen leisten – aber zum ersten Mal im Arbeitsleben zu stehen und plötzlich liefern zu müssen, kann auch zur Überforderung führen», sagt Ruckstuhl.

Wenig Zeit, sich einzuarbeiten

Dies habe aber generell mit dem gestiegenen Druck in der Arbeitswelt zu tun. «Ein Schreiner musste früher handwerkliches Können besitzen, heute muss er zwingend einen Computer bedienen können», so Ruckstuhl. «Diese Realität kann für viele trotz vorheriger Schnupperlehre ein Schock sein», sagt er. Hinzu komme der Zeitdruck, unter dem viele Betriebe stünden. Es bleibe wenig Zeit für Lernende, sich gründlich in eine Aufgabe einzuarbeiten. So stören sich laut Befragung auch mehr als 40 Prozent der Befragten daran, immer wieder bei der Arbeit unterbrochen zu werden.

Ruckstuhl beobachtet, dass die meisten Lehrvertragsauflösungen wegen Konflikten mit Mitarbeitern oder dem Chef erfolgten. Das sei wiederum auf den Druck zurückzuführen. Denn wenn die Berufsbildner gestresst seien, hätten sie auch kaum Zeit für die Lernenden – und die fehlende Hilfe führe bei den Jugendlichen zu Überforderung. Es sei nicht die Lehre, die von den Jugendlichen zu viel verlange, sondern die Betreuung sei oftmals nicht ausreichend, so Ruckstuhl.

20-Prozent-Pensum für Berufsbildner als Minimum

Die meisten Lehrverträge werden im ersten Lehrjahr aufgelöst: Es sind je nach Branche 20 bis 25 Prozent. «Wer als Berufsbildner das verhindern und eine gute Betreuung bieten will, muss ein 20-Prozent-Pensum aufwenden», findet Ruckstuhl.

Anja Gebhardt, Studienautorin und Bereichsleiterin Berufsbildungsforscherung am Institut Professionsforschung und Kompetenzentwicklung der PHSG, betont, dass es sich bei den Werten um die Selbsteinschätzung der Lernenden handle.

Lernende seien nicht zu belastet

Inwiefern der Druck real sei, sei nicht feststellbar. Auch sie vermutet aber, dass Lernende beim Lehreintritt zu viel zu schnell erfassen müssten. Insgesamt seien die Befragten aber nicht zu stark belastet in ihrer Lehre: Auf einer Skala von 1 bis 5 lag der Mittelwert beim Zeitdruck bei 2,84. «Die Ursachen für den erlebten Zeitdruck in der Berufsausbildung werden im weiteren Verlauf der Studie vertieft», sagt Gebhardt.

Arbeitgeber sehen keinen Handlungsbedarf

Was tun die Arbeitgeber gegen die Belastung ihres Berufsnachwuches? Die Arbeitszufriedenheit wie auch der Gesundheitsschutz seien in der Schweiz auf einem ausserordentlich hohen Niveau, heisst es beim Arbeitgeberverband. Dies bestätige eine aktuelle Seco-Studie, wonach fast 90 Prozent der Erwerbstätigen zufrieden oder sehr zufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen sind. Einer der wichtigsten Faktoren sei dabei der Zuspruch und die Ermunterung durch respektvolle Chefs. «Besonders positiv auf die Arbeitszufriedenheit wirkt sich zudem ein anerkennendes, faires sowie auf Vertrauen basiertes Organisationsklima aus.»

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