Neue Leber für frisch entwöhnte Alkoholiker?

Aktualisiert

Kontroverse OrganspendeNeue Leber für frisch entwöhnte Alkoholiker?

Soll auch ein Ex-Alkoholkranker von einer Lebertransplantation profitieren können, obwohl er erst seit Kurzem trocken ist? Eine Studie dazu sorgt für eine heftige Diskussion.

von
Runa Reinecke

Um eine Diskussion über zutiefst ethische Fragen zu entzünden, bedarf es nicht immer eines hochemotionalen Auslösers. Jüngstes und zugleich naturwissenschaftlich-nüchternes Beispiel: eine Studie, die in der Novemberausgabe des «New England Journal of Medicine» erschienen ist. Ihr Inhalt führte in den vergangenen Tagen vor allem in den US-Medien zu heissen Debatten. Die pikante Erkenntnis der Forscher um Philippe Mathurin vom Hôpital Claude Huriez in Lille: Um einen Alkoholkranken einer Lebertransplantation zu unterziehen, muss dieser zuvor nicht zwangsläufig sechs Monate lang dem Alkohol abgeschworen haben.

Diese sogenannte Karenzzeit wird – wie in vielen europäischen Ländern üblich – auch in der Schweiz vorausgesetzt, damit ehemalige Trinker, die unter einer selbst provozierten Leberzirrhose leiden, auf eine Warteliste für ein Spenderorgan aufgenommen werden. Grundsätzlich gilt: Wer - aus welchen Gründen auch immer - als «nicht transplantabel» eingestuft wird, kommt erst gar nicht auf die Liste. Diese Regelung nimmt den Verantwortlichen zumindest einen Teil der schweren Entscheidung ab, wer als nächstes ein Organ bekommt. Darüber hinaus richtet sich die Position des Wartenden auf der Transplantationsliste nach der Bedürftigkeit.

Sechs Tote, drei Rückfällige

In ihre Studie schlossen die Forscher 891 Lebertransplantationen ein, die an insgesamt sieben verschiedenen Transplantations-Zentren in Frankreich durchgeführt wurden. Unter ihnen waren 315 Patienten, die aufgrund ihrer ehemaligen Alkoholerkrankung ein neues Organ erhielten. 26 dieser mittlerweile abstinenten Patienten erhielten ein Transplantat, bevor ihre sechsmonatige Karenzfrist abgelaufen war, sechs davon verstarben kurz nach der Operation. Nur drei dieser 26 Organempfänger fielen nach der Transplantation wieder in ihre alten Suchtstrukturen zurück und begannen wieder zu trinken. Die Autoren der Studie kamen zum Schluss, dass durch die Vernachlässigung der sechsmonatigen Abstinenz-Frist mehr Menschen vor dem sicheren Tod bewahrt werden konnten.

Doch auch wenn die Rückfallquote gering erscheint, bleibt für so manchen ein bitterer Nachgeschmack. Soll einem Menschen, der erst seit kurzer Zeit nicht mehr an der Flasche hängt, eine Leber transplantiert werden? Ist es sinnvoll zu riskieren, dass dieser sein neues Organ ebenfalls ruiniert, während andere potentielle Organempfänger leer ausgehen und sterben? Letztere werden oft mit den sogenannten «selbstverschuldeten» Lebererkrankten in einen Topf geworfen und zu Unrecht stigmatisiert, wie Daniel Candinas, Chefarzt für Viszeral- und Transplantationschirurgie am Inselspital Bern, beklagt: «Die meisten Patienten sind nicht wegen übermässigem Alkoholkonsum auf eine Spenderleber angewiesen, sondern wegen eines Virusleidens, einer Vergiftung oder einer Stoffwechselerkrankung.»

«Karenzzeit ist wichtig»

In der Schweiz werden jedes Jahr um die 100 Lebertransplantationen durchgeführt. Am 1. Januar 2011 warteten Swisstransplant zufolge 154 Menschen auf eine Spenderleber. Nur ein Fünftel dieser potentiellen Empfänger leidet oder litt an einer durch Alkoholmissbrauch bedingten Leberzirrhose. Von der in der Studie erwähnten Möglichkeit, Alkoholikern, die erst seit kurzer Zeit trocken sind, eine Spenderleber zu überlassen, hält Franz Immer, Chef der nationalen Organzuteilungsstelle Swisstransplant, wenig: «Diesen Weg empfinde ich als fragwürdig. Zum einen ist unklar, ob ein Alkoholkranker nach der Operation

seine Medikamente regelmässig einnimmt, damit es nicht zu einer Abstossung des Organs kommt. Zum anderen würden viele Menschen auf eine Organspende verzichten, wenn sie wüssten, dass der Empfänger immer noch oder bald wieder trinkt.» Die für ehemalige Alkoholkranke angesetzte Karenzzeit von sechs Monaten hält Immer für wichtig, dennoch gibt es auch Ausnahmen: «So starr ist das nicht verankert», meint der Mediziner, fügt allerdings hinzu, dass man «multidisziplinär entscheidet», ob ein Patient auch schon früher auf die Organwarteliste aufgenommen wird da, so Immer, «diesem Aspekt besonders Rechnung getragen wird».

Dass die Zeit alleine kein Garant dafür ist, dass ein «trockener» Alkoholiker nach einer Transplantation durch Abstinenz und Disziplin auch wirklich aktiv an seiner Genesung mitarbeitet, weiss Daniel Candinas. Er kennt die Probleme, die selbst nach der Sechs-Monate-Frist bei den ehemaligen Suchtkranken bestehen können: «Zeit ist ein wichtiger Faktor. Darüber hinaus sind aber auch die Stabilität des Umfeldes und die Krankheitseinsicht des Patienten für den langfristigen Erfolg wichtig.» Auch eine «intensive psychologische Abklärung» sei in diesem Zusammenhang von grosser Bedeutung.

Diskriminierend und fragwürdig

Gerade in Bezug auf den langfristigen Erfolg erkennt Candinas in der Studie seiner französischen Kollegen deutliche Schwächen, denn die Probanden wurden nur über einen Zeitraum von einem halben Jahr nach der Operation beobachtet. «Die Studie sagt nichts über die Langzeitperspektiven der operierten Patienten aus», meint der Professor. Das Thema fände er zwar interessant, für die Praxis könne er sich eine Aufhebung der Karenzfrist aber nicht vorstellen.

Genau über diese Frist ärgert sich der Suchtexperte Martin Schmitz. Für das Vorstandsmitglied der Suchtpräventions-Organisation Blaues Kreuz ist die Regelung schlicht diskriminierend: «Ich halte nichts davon, dass der Patient zuerst eine anhaltende Alkoholabstinenz über einen längeren Zeitraum unter Beweis stellen muss, um transplantationswürdig zu sein.» Für ihn ist es aus ethisch-moralischer Sicht «falsch und fragwürdig», einem Menschen ein Organ vorzuenthalten, nur weil er seine Erkrankung angeblich selbst verursacht hat.

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