Nokia enthüllt «das erste echte Windows-Phone»

Aktualisiert

Nokia Lumia 800Nokia enthüllt «das erste echte Windows-Phone»

Es sei «die Wiedergeburt von Nokia», verkündete Konzernchef Elop. Und meinte das neue Nokia Lumia 800. Dieses hat alles, um die Konkurrenz das Fürchten zu lehren, ist aber gefährlich spät dran.

von
Oliver Wietlisbach

Nach den Durchhalteparolen im vergangenen Jahr haben die Finnen am Mittwochmorgen an der alljährlichen Hausmesse Nokia World in London endlich geliefert: Der neue Star von Nokia heisst Lumia 800 - das «erste echte Windows Phone», wie Elop bei der Präsentation sagte.

In der Tat kommt die neue Nokia-Hoffnung mit einigen Funktionen daher, die andere Windows-Phone-Handys bislang vermissen lassen. Zu den wichtigsten Neuerungen zählen der Cloud-basierte Musikdienst Nokia Music und die Gratis-Navigation Nokia Drive, die den Autofahrer mit Sprachausgabe zum Ziel lotst. Die Maps lassen sich offline nutzen, so dass auch im Ausland keine Mobilfunk-Kosten anfallen.

Mit dem Online-Musikdienst greift Nokia den Rivalen Apple frontal an. 14 Millionen Songs können ohne Registrierung sofort gestreamt oder heruntergeladen und im Offline-Modus angehört werden. Wie bei Web-Radios können nicht einzelne Songs, sondern nur das Genre gewählt werden. Allerdings lassen sich ungewünschte Songs überspringen. Lumia-Besitzern stehen mit Windows Phone 25 Gigabyte Speicher für Musik oder Fotos gratis zur Verfügung.

Wann erhältlich?

Auf den ersten Blick sticht die optische Verwandtschaft mit dem bereits ausführlich vorgestellten Nokia N9 ins Auge. Im Gegensatz zum N9, das völlig ohne Buttons auskommt, finden sich beim Lumia 800 die Windows-Phone-typischen Buttons für «Zurück», «Home» und «Suchen» am unteren Bildschirmrand.

Während das N9 mit dem Nokia-Betriebssystem MeeGo läuft, setzen die Finnen mit ihrem neuen Premium-Gerät voll auf Microsofts Windows-Phone-Betriebssystem. In Deutschland, England, Frankreich, Italien, Spanien und den Niederlanden wird es bereits im November im Handel sein, Schweizer müssen sich bis Anfang 2012 gedulden. Das Lumia 800 soll rund 420 Euro kosten.

Für weniger betuchte Kunden bietet Nokia mit dem Lumia 710 eine leicht abgespeckte Version an, die optisch in keiner Weise mit dem stylischen Lumia 800 mithalten kann, aber ebenfalls mit einem schnellen 1,4-GHz-Prozessor bestückt wurde. Die ersten Nokia-Handys mit Windows Phone können ab sofort auf der Firmen-Website vorbestellt werden.

«Aussen eine Schönheit, innen ein Biest»

Nokias Top-Modell Lumia 800 hat ein 3,7 Zoll grosses, leicht gebogenes Amoled-Display mit 800 mal 480 Pixeln und liegt dank den abgerundeten Seiten sehr gut in der Hand. Zu den Stärken zählt auch dieselbe 8-Megapixel-Kamera, die bereits im Nokia-N9-Test von 20 Minuten Online überzeugen konnte. Design-Liebhaber werden zudem vom schlichten Unibody-Gehäuse angetan sein. Das Gehäuse ist wie beim N9 aus einem Stück Kunststoff gefräst.

Gut, aber nicht ganz auf Augenhöhe mit dem iPhone 4S ist der 1,4 GHz schnelle Prozessor. Da Windows Phone 7.5 (Mango) selbst auf 1-GHz-Prozessoren flüssig läuft, dürfte dies mehr als ausreichend Power sein. Auf der Minus-Seite bleiben für Speed-Freaks dennoch der fehlende Dual-Core-Prozessor und die mit 35 000 Apps im Vergleich zu Android und Apples iOS geringe Anzahl an Anwendungen. Im Gespräch mit 20 Minuten Online darauf angesprochen, sagte Kevin Shields von Nokia, der das Lumia 800 an der Keynote präsentierte, dass die Zahl neuer Apps für Windows Phone bereits schneller wachse als für iOS und Android.

Im Weiteren ist der interne Speicher des Smartphones auf 16 GB beschränkt und lässt sich nicht erweitern.

Da es für den angeschlagenen Handy-Giganten mit der Lumia-Reihe um alles oder nichts geht, dürfte die Markteinführung von einer beispiellosen Werbekampagne begleitet werden, wie Konzernechef Elop an der Keynote andeutete. In England beispielsweise waren bereits vor der Präsentation erste Werbespots im Fernsehen zu sehen.

Neue Billig-Handys für den Massenmarkt

Nokia wurde durch Billig-Handys zum Marktführer und dieser Tradition bleiben die Finnen mit der Asha-Reihe (Asha bedeutet Hoffnung) treu. Nebst den Windows-Phone-Geräten stellte Nokia vier neue Handys im unteren Preissegment vor, die mit Dual-Sim-Support, QWERTY-Tastatur und bis zu 32-GB Speicher aufwarten. Auf dem N 303 etwa lassen sich wie auf weit teureren Smartphones Apps und Spiele installieren. Es kommt mit Nokia-Maps und unter der Haube sorgt ein 1-GHz-Prozessor für genügend Leistung.

Mit den Asha-Phones sollen vor allem Kunden in Schwellenländern wie Indien angesprochen werden. Um einer weiteren Milliarde Menschen ausserhalb der Industrieländer Zugang zum mobilen Internet zu ermöglichen, wurden die Billig-Handys mit WLAN ausgestattet.

Ist Stephen Elop der Messias für Nokia?

Vor rund einem Jahr hat der ehemalige Microsoft-Manager Stephen Elop das Ruder bei Nokia übernommen und fast keinen Stein auf dem anderen gelassen. Um die Kosten zu senken, wurden Tausende Mitarbeiter auf die Strasse gestellt, Entwicklungsteams aufgelöst und das neue Betriebssystem MeeGo für das Nokia N9 wurde zwar fertiggestellt, wird aber nicht wie geplant Symbian ablösen, sondern ein Nischendasein fristen.

Elop machte heute klar, dass Nokia im Smartphone-Segment künftig voll auf Microsofts Windows-Phone-Betriebssystem setzen wird, das bislang zwar viel Lob von der Fachpresse erhielt, bei den Konsumenten aber auf wenig Interesse stiess. Mit dem Kanadier an der Spitze des finnischen Konzerns sollen zudem die Entscheidungsprozesse schneller werden, so dass Markt-Trends nicht mehr verschlafen werden.

Das erste Fazit

Die gute Nachricht für die Finnen lautet: Sie haben mit den Windows-Phone-Geräten endlich konkurrenzfähige Handys am Start, die spätestens mit der Lancierung von Windows 8 - vermutlich im nächsten Jahr - breite Unterstützung durch die App-Entwickler erfahren könnten. Microsoft arbeitet wie Apple und Google an der Vernetzung von Smartphones, Tablet-PCs, Desktop-PCs und weiteren Plattformen wie Smart-TVs, die künftig alle mit dem gleichen Betriebssystem laufen sollen.

Nokia-Smartphones im Windows-Ökosystem könnten für die Kunden ähnlich attraktiv werden wie das iPhone im Apple-Ökosystem oder Handys von Samsung und anderen Herstellern in der Android-Welt. Die Gretchenfrage ist, ob es Nokia gelingt, die Entwickler rasch von Windows Phone zu überzeugen.

Ob Nokia und Microsoft die Kurve kriegen, ist offen. Die Konzerne seien zwei Jahre zu spät dran, sagen viele Fachjournalisten. Wie sich die Kunden allerdings entscheiden, werden erst die nächsten Monate zeigen. In grossen Märkten wie den USA oder China kommen die Windows-Phone-Geräte erst im nächsten Jahr heraus - konkrete Zeitangaben, auch für die Schweiz, blieben die Finnen schuldig.

Letzte Chance

Für Nokia sind das Lumia 800 und das Lumia 710 wohl die letzte Chance, im boomenden Smartphone-Markt eine ähnlich grosse Nummer zu werden wie zuvor im Handy-Bereich. Der Marktwert des einstigen Börsen-Highflyers ist seit der Lancierung des iPhones im Jahr 2007 um rund 66 Prozent eingebrochen. Nach Stückzahlen verkauft Nokia zwar noch immer am meisten Handys - das Gros davon sind allerdings Billig-Handys mit geringer Marge.

Im lukrativen Smartphone-Segment sind Apple und Samsung an den Finnen vorbeigezogen, da konkurrierende Mobile-Betriebssysteme wie Apples iOS oder Googles Android seit Jahren intuitiver und leistungsfähiger sind, als das angestaubte Nokia-Betriebssystem Symbian. Von den Versäumnissen der Finnen haben nebst Apple vor allem Samsung und HTC seit längerem profitiert, die auf das schnell wachsenden Mobile-Betriebssystem Android gesetzt haben.

Update 27.10.2011

Nokia hat am Donnerstag mitgeteilt, dass die neuen Lumia-Smartphones «gleich zu Beginn des nächsten Jahres in der Schweiz erhältlich sein sollen.» Swisscom, Orange und Sunrise werden sie genauso im Angebot führen wie der Schweizer Fachhandel.

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