Nützt die Türkei-Offensive gegen die Kurden dem IS?

Aktualisiert

«Operation Olivenzweig»Nützt die Türkei-Offensive gegen die Kurden dem IS?

«Keinen Schritt zurück» will der türkische Präsident Erdogan bei seiner Militäroffensive gegen die Kurden in Syrien weichen. Die «Operation Olivenzweig» birgt Risiken.

von
Ann Guenter
Die Türkei hatte ihre Boden- und Luftoffensive «Operation Olivenzweig» auf Afrin am Samstag begonnen. Sie will die von den USA unterstützte syrisch-kurdische Miliz YPG aus dem Gebiet verdrängen sowie eine 30 Kilometer breite sogenannte Sicherheitszone in Afrin errichten.
Die türkische Regierung betrachtet die YPG als Terrororganisation, die ihrer Ansicht nach mit dem kurdischen Aufstand in ihrem Land in Verbindung steht. Afrin ist derzeit von allen Seiten von türkischen Truppen, deren Verbündeten oder von syrischen Regierungskräften umzingelt. Die einzige Strasse hinaus in Richtung Aleppo ist von der YPG aus Sicherheitsgründen geschlossen worden.
Erdogan sagte, das wesentliche Ziel der Operation sei, die nationale Sicherheit der Türkei zu gewährleisten, die territoriale Einheit Syriens zu bewahren und das syrische Volk zu schützen.
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Die Türkei hatte ihre Boden- und Luftoffensive «Operation Olivenzweig» auf Afrin am Samstag begonnen. Sie will die von den USA unterstützte syrisch-kurdische Miliz YPG aus dem Gebiet verdrängen sowie eine 30 Kilometer breite sogenannte Sicherheitszone in Afrin errichten.

epa/Sedat Suna

Die Türkei will die Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG im Norden Syriens trotz internationaler Kritik weiter vorantreiben.

«Wir werden keinen Schritt zurückweichen», sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Die türkische Armee werde die Provinz Afrin ebenso unter ihre Kontrolle bringen wie zuvor schon Dscharablus, al-Rai und al-Bab.

Das Vorgehen sei mit Moskau abgesprochen. Auch mit den USA habe seine Regierung gesprochen, diese aber «bei einigen Fragen nicht überzeugen» können.

Die türkische Offensive in Afrin ist brisant für die USA, da sie die YPG im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) unterstützen. Die Türkei dagegen betrachtet die YPG als syrischen Zweig der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und damit als Terrororganisation. Sie fordert von Washington schon lange vergeblich die Einstellung der Militärhilfe für die YPG.

Das türkische Vorgehen macht den ohnehin schon zerfahrene Syrien-Konflikt noch etwas unübersichtlicher. Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, hat uns einige Fragen beantwortet.

Herr Brakel, sind die Sicherheitsbedenken der Türkei in Nordsyrien legitim?

Es gibt legitime Sicherheitsbedenken gegen die PKK-Präsenz. Das bedeutet nicht, dass die aktuelle Militäroperation vollends sinnvoll ist. Aber die Amerikaner haben die PKK, zu der die Untergruppe der syrischen Kurden YPG gehört, in Syrien bewaffnet, und das stellt für die Türkei tatsächlich ein Problem dar.

Hätte Erdogan diesen militärischen Vorstoss auch ohne das Plazet von Russlands Präsident Putin gewagt?

Nein, das denke ich nicht. Aus zwei Gründen: Ohne Genehmigung aus Moskau könnte die Türkei keine Luftangriffe fliegen, denn Russland kontrolliert den syrischen Luftraum. Seit die Türkei im November 2015 an der syrischen Grenze einen russischen Jet abgeschossen hat, braucht die Türkei sowieso die russische Einwilligung für alle militärischen Operationen. Und zweitens: Russland hat militärische Einheiten in Afrin. Diese wurden jetzt offenbar abgezogen. Doch Artillerie auf diesen Ort zu lenken, wäre zuvor enorm riskant gewesen.

Ist das türkische Vorrücken gegen Afrin ein Zeichen dafür, dass Russland die Kurden fallen gelassen hat?

Das glaube ich nicht. Die Kurden haben in den letzten Jahren sehr geschickt zwischen den USA und Russland laviert und damit gedroht, sich der jeweils anderen Seite anzuschliessen, sollte man sie fallen lassen. Jetzt sehen sie sich von beiden etwas verlassen. Allerdings haben beide, Amerikaner und Russen, ein Interesse daran, die Kurden weiter an sich zu binden.

Stehen sich in Afrin David gegen Goliath gegenüber? Die Kurden haben ja zumeist nur leichte Waffen.

Viele der kurdischen Einheiten sind irregulär und es gab in den letzten Tagen Berichte, wonach sich jetzt auch Zivilisten bewaffnet haben. Doch die Türkei rückt halt mit Panzern – deutschen Panzern – und einer Luftwaffe an, und da sind die Kurden mit ihren Handwaffen und einigen Panzerabwehrwaffen unterlegen.

Wie weit wird Erdogan jetzt gehen? Er hat ja schon angekündigt, nach Afrin auch Manbij anzugreifen.

Gerüchten zufolge gab es einen Deal: Die Russen erlaubten der Türkei den Vormarsch auf Afrin, aber untersagten ihr, diese Operation weiter auszudehnen, etwa nach Manbij, das eigentlich auf der türkischen Angriffsliste steht. Es gab also ein russisches O.K., einen Korridor von etwa 30 Kilometern von der türkischen Grenze aus zu besetzen. Und im Gegenzug stimmen die Türken zu, dass die Kurden, die PKK, in Sotschi am Friedenskongress für Syrien vertreten sein darf. So einen Handel halte ich für sehr wahrscheinlich, und deswegen dürfte die Operation der Türkei begrenzt bleiben. Was natürlich sein kann: Dass die Einnahme von Afrin länger dauert als erwartet. Immerhin haben die kurdischen Kräfte damit begonnen, relativ viel Gerät nach Afrin zu bringen. Dennoch wird die Stadt ohne Luftunterstützung nicht lange zu halten sein.

Inwieweit hat die Operation der Türkei zur Folge, dass der IS eine Verschnaufpause erhält – gerade jetzt, wo er in Syrien am Ersticken ist?

Das kann durchaus sein. Wenn sich die kurdischen Verbände mehr und mehr auf den Abwehrkampf gegen die türkischen Einheiten konzentrieren, leidet natürlich auch die Militäroffensive gegen den IS. Allerdings: Der IS ist nicht mehr prominent in der Provinz Idlib vertreten. Doch es kann auch sein, dass die Kurden sich von allen Seiten im Stich gelassen fühlen und sich dann weigern, den Kampf gegen den IS in anderen Regionen, etwa im Gebiet um den Euphrat, weiterzuführen.

Erdogan hat jenen, die gegen die Offensive in Syrien demonstrieren wollen, offen gedroht. Offenbar hat er dem schon Taten folgen lassen.

Es gab bereits Demonstrationen in Istanbul, die gewaltsam aufgelöst wurden. Personen, die sich auf Twitter kritisch äusserten, wurden festgenommen, darunter eine berühmte kurdische Journalistin. Mit der Meinungsfreiheit ist es in der Türkei leider nicht mehr zum Besten bestellt.

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