Russland-Experte – «Nur eine Frage der Zeit, bis das Kriegsrecht eingeführt wird»

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Russland-Experte«Nur eine Frage der Zeit, bis das Kriegsrecht eingeführt wird»

Russen verlassen ihr Land, weil Putin bald das Kriegsrecht und Ausreisebeschränkungen verhängen könnte. Ein Russland-Experte schätzt ein, was es mit diesen Gerüchten auf sich hat.

Zahlreiche Russinnen und Russen versuchen, ihr Land zu verlassen.
Der Hintergrund: Gerüchte, dass Putin in Russland bald Kriegsrecht und Ausreisebeschränkungen verhängen könnte.
Der Kreml dementiert dies.
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Zahlreiche Russinnen und Russen versuchen, ihr Land zu verlassen.

AFP

Darum gehts

In Russland kursiert das Gerücht, Putin könnte bald Kriegsrecht verhängen. Zahlreiche Russen versuchen deshalb, das Land zu verlassen. Wieso bereitet das der Bevölkerung Sorge?
Dr. Alexander Dubowy, Rechtsanalyst und Russland-Experte: Weil solche Gerüchte selten von ungefähr kommen. Zudem dementierte der Kreml diese heftig, was eher dafür spricht, dass die Ausrufung des Kriegszustands zumindest erwägt wird. Die Konsequenz wären grosse Einschränkungen des öffentlichen Lebens.

Wie realistisch ist das Szenario, dass Putin Kriegsrecht erlässt?
Das ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, es könnte bereits nächste Woche soweit sein. Putin steht unter immensem Druck von allen Seiten, den Krieg zu beenden. Russland hat in der aktuellen Situation nur zwei Optionen: Entweder eine Feuerpause und Friedensverhandlungen, was aber einer Niederlage für Putin gleichkommt. Oder ein verstärkter Einsatz schwerer Waffen, was mir wahrscheinlicher scheint. Dann würde Putin die ukrainischen Städte stürmen und damit einen raschen Sieg anstreben, ohne Rücksicht auf den Preis. Eine solche blutige Offensive würde wohl mit der Ausrufung des Kriegszustands einhergehen.

Was bringt Putin das Ausrufen des Kriegszustands?
Wäre Russland ein Rechtsstaat, wäre der Kriegszustand ein grosser Gewinn für Putin. Denn damit ginge die ganze Fülle der Macht an den Präsident über. Dann könnte Putin über Präsidialdekrete regieren und so auch verfassungsmässige Grundrechte einschränken. Das würde auch den Alltag der russischen Bevölkerung treffen: Der Kriegszustand erlaubt es der Regierung nicht nur, härter gegen kritische Berichterstattung oder Äusserungen vorzugehen, sondern würde sogar die Abschaltung des Internets im Inland ermöglichen. Auch das Verhängen eines Demonstrationsverbots oder einer Ausgangssperre wäre denkbar, genauso wie ein Verkaufsverbot für Alkohol und Waffen, die Verstaatlichung von Unternehmen oder Ausreiseverbote.

Weshalb ein Ausreiseverbot? Um bei einer Mobilmachung genügend Soldaten zu haben?
Auch eine Massenmobilmachung wäre im Kriegszustand möglich. Doch das ist im Moment nicht nötig, Russland hat über zwei Million Reservisten, auf die das Land zurückgreifen kann. Doch ein Ausreiseverbot würde der Bevölkerung signalisieren, dass die Lage ernst ist. Für Putin wäre es zudem ein praktisches Kontrollinstrument, da im Moment viele Menschen versuchen, Russland zu verlassen. Die Wirkung wäre allerdings begrenzt, denn nicht einmal ein Drittel der russischen Bevölkerung verfügt über einen Pass, mit dem man überhaupt ins westliche Ausland ausreisen könnte.

Wann kann Putin den Kriegszustand ausrufen?
Gemäss der russischen Verfassung ist dazu ein Angriff oder die Gefahr eines Angriffs auf Russland nötig. Doch das russische Verfassungsgericht legt die Befugnisse des Präsidenten sehr grosszügig aus: Der Präsident darf fast alles tun, sofern dies der Sicherheit des Landes dient. Bereits Massenproteste könnten demzufolge eine Verhängung rechtfertigen. Alleine der Präsident hat die Kompetenz dazu, den Kriegszustand auszurufen. Die zwei Kammern des russischen Parlaments müssen informiert werden und die Oberkammer muss dies genehmigen, was aber als gesichert gilt. Doch formell wird Putin den Kriegszustand womöglich gar nicht ausrufen.

Weshalb nicht?
Einerseits löst die Ausrufung des Kriegszustands eher Panik in der Bevölkerung aus. Und das ist das Letzte, was Putin braucht. Andererseits wird das russische Parlament wohl sowieso jedes Gesetz durchwinken, das Putin möchte. Auch Grundrechtseinschränkungen, die laut Verfassung eigentlich nur im Kriegszustand möglich wären. Bislang hielt Russland zumindest eine Schein-Rechtsstaatlichkeit aufrecht. Jetzt hält es Putin offensichtlich nicht mehr für nötig, seine Handlungen in einen rechtsstaatlichen Rahmen zu giessen. Wir sind auf einer Ebene der reinen Willkür angekommen. Das zeigt sich auch an der Verschärfung des russischen Strafrechts, die seit Samstag gilt.

Sie thematisieren eine Gesetzesänderung, die umfassende Zensur vorsieht. Was hat es damit auf sich?
Das russische Parlament hat am Freitag im Eiltempo eine krasse Verschärfung des Strafrechts erlassen. Diese Einschränkungen kommen einer Militärzensur gleich, die in diesem Ausmass nach russischem Recht nur im Kriegszustand zulässig wäre. Neu ist, dass beinahe jegliche Kritik am Vorgehen der russischen Streitkräfte mit drakonischen Strafen bedroht wird. Wer etwa zu Anti-Kriegs-Protesten aufruft, kann zu einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren verurteilt werden. Die Verbreitung von «Fake News» ist strafbar und zieht eine hohe Geld- oder Haftstrafe nach sich. Das verunmöglicht die Arbeit ausländischer Journalisten. Aus rechtsstaatlicher Sicht besonders bedenklich daran ist, dass Russland diese Bestimmungen rückwirkend anwendet. Das bedeutet etwa, dass auch schon vor der Gesetzesverschärfung gepostete Äusserungen bestraft werden.

Hat Putin die Ausrufung von Kriegsrecht wohl bereits von Beginn weg geplant?
Das glaube ich nicht. Die russische Führung rechnete mit einem Blitzkrieg und plante gar nicht so langfristig. Putin wurde schlecht beraten, denn er kann sich keinen langwierigen Krieg leisten. Wenn sich die Kämpfe in der Ukraine über Monate hinziehen, weiss ich nicht, wie sich Russland aus seiner wirtschaftlichen Misere ziehen will.

Wie ist die Stimmung in Russland in Hinblick auf den Krieg in der Ukraine?
Insgesamt sind die Russen der Überzeugung, dass dieser Krieg notwendig ist. Die Friedensproteste beschränken sich hauptsächlich auf Grossstädte, wo primär die gebildete Mittelschicht und damit eine kleine Minderheit der Bevölkerung protestiert. Von Massenprotesten sind wir noch weit entfernt. Nur eine Minderheit ist gegen den Krieg, von dieser Minderheit ist wiederum nur eine noch kleinere Minderheit bereit, dafür tatsächlich auf die Strasse zu gehen. Die Mehrheit der Russen unterstützt die Politik Russlands und sieht den Westen in der Schuld.

Also hat Putin in Russland gar nichts zu befürchten?
Nur soziale Proteste könnten der Regierung gefährlich werden. Solche Massenproteste entstehen höchstens dann, wenn sich der Lebensstandard der Russen deutlich verschlechtert. Die Auswirkungen der staatlichen Sanktionen, aber auch der freiwillige Rückzug westlicher Unternehmen aus Russland, haben das Potenzial dazu, die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu steigern. Anders als Friedensproteste könnten grosse soziale Unruhen womöglich sogar ein Ende des Kriegs herbeiführen.

Weshalb nimmt die russische Bevölkerung den Krieg in der Ukraine einfach hin?
Die Mehrheit der Russen ist sehr apolitisch und selbstbezogen. Was «die da oben» machen, ist ihnen meistens egal, solange sie haben, was sie zum Leben brauchen. Ein Grossteil der Bevölkerung macht sich keine Illusionen, politisch etwas verändern zu können. Wichtig für die Russen sind dagegen etwa eine gute Lebensmittelversorgung und ein funktionierender Arbeitsmarkt. Die staatliche Propaganda und die Angst vor Repression spielen dabei eine eher untergeordnete Rolle.

Wie realistisch ist ein Machtwechsel in Russland?
Stand jetzt ist ein Regimewechsel kaum vorstellbar. Eine Palastrevolte bräuchte einige Vorlaufzeit. Die russischen Eliten sind zwar zerstritten, aber Putin kontrolliert den Geheimdienst und die Polizei.

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