Jacksons «Xscape»Plastische Chirurgie für alte Songs
Aus alten Songentwürfen schusterten hochkarätige Produzenten ein neues Michael-Jackson-Album. Wie klingt das Genie fünf Jahre nach seinem Tod? 20 Minuten hat sich durchgehört.
Die Reaktionen aus dem Fanlager des King of Pop fielen sehr unterschiedlich aus, als sein Label Sony Music ankündigte, ein neues Album aus Demos des verstorbenen Jackson zusammenzustellen. Pietätlos fanden die einen, andere aber waren gespannt auf das ungehörte Material der Legende. Zwar floppte der erste Posthum-Release «Michael», trotzdem liegt immer noch ein Knistern in der Luft, wenn neue Songs des begnadeten Sängers veröffentlicht werden.
Dieses Mal sollte es ein Team aus hochkarätigen Produzenten – unter anderem Timbaland – richten: Von einem «zeitgemässen Sound» war die Rede, den man Michaels alten Gesangsspuren aufdrücken wolle. Für diejenigen, die keinen Gefallen daran finden, enthält die Deluxe Edition die unfertigen Songs in ihrer ursprünglichen Fassung.
Seit heute ist «Xscape» nun also erhältlich und nach dem ersten Hördurchgang lässt sich sagen, dass es die Songs durchaus verdienen, veröffentlicht zu werden. 20 Minuten nimmt das neue Jackson-Album unter die Lupe.
«Love Never Felt So Good»
Der Eröffnungstrack von «Xscape» ist gleich einer der stärksten Momente des Albums. Kurz nach der «Thriller»-Ära schrieb Jackson den Song in Zusammenarbeit mit Paul Anka. «Love Never Felt So Good» zeigt den King of Pop in seiner Blütezeit. Zwar lässt der satte, moderne Sound stellenweise zu wenig Platz für die Stimme, grundsätzlich wäre Jackson mit dem tanzbaren Beat aber wohl einverstanden gewesen.
«Chicago»
Schon im zweiten Song darf sich Produzent Timbaland austoben. «Chicago» wird eingeleitet von brummenden Bass-Sounds und ist vollgepackt mit klebrig-süssen Synthie-Flächen. Hier lässt sich der «zeitgemässe Sound» klar erkennen und laut Timbaland soll der Song dereinst als Single ausgekoppelt werden. Bei Chicago lohnt sich der Vergleich mit der Deluxe Edition, auf der der Song in seiner ursprünglichen Version zu finden ist.
«Loving You»
Wäre «Off The Wall» heutzutage aufgenommen worden, würde es wohl so klingen. «Loving You» ist eine Mid-Tempo-Ballade, wie sie Jackson in den Achtzigern häufig schrieb. Ein schneller, rüttelnder Beat verleiht dem Song Drive, während Michael mit fast schon naiver Stimme seine Liebste besingt. Im Vergleich zum Rest des Albums wirkt «Loving You» etwas zu brav, schon ab dem nächsten Song wird «Xscape» allerdings düsterer.
«A Place With No Name»
Die Basslinie, die «A Place With No Name» führt, klingt wie ein Zitat aus Jacksons eigenem Überhit «The Way You Make Me Feel». Ein Blick auf die Demo-Version aus den Achtzigern zeigt: So hatte das der King of Pop ursprünglich nicht beabsichtigt. Die Überarbeitung macht den Song allerdings fast noch stärker: Hier verschmelzt der moderne Sound zum ersten Mal perfekt mit den alten Gesangsspuren.
«Slave To The Rhythm»
Als vergangenes Jahr unter diesem Titel ein Duett von Justin Bieber und Michael Jackson im Internet auftauchte, wurde die Echtheit noch angezweifelt. Nun zeigt sich, dass der Song tatsächlich existiert – aus der finalen Version wurde Biebers Part allerdings rausgestrichen. Geschadet hat es nicht: Jacksons Stimme ist in Höchstform. Wie man es von seinen späteren Werken gewohnt ist, knurrt er den Text fast schon eher, als zu singen.
«Do You Know Where Your Children Are?»
Der Song, der bereits seit 2012 im Internet herumgeistert, ist ein idiotensicherer Hit. Der Refrain klingt so gross, dass man sich fragt, wie Jackson diesen Song zurückhalten konnte. Mit eindringlicher Stimme singt er von einem Mädchen, das zuhause misshandelt wird und wegläuft, um in Hollywood auf den Strassenstrich zu gehen. Der bisherige Höhepunkt von «Xscape».
«Blue Gangsta»
Auf das Highlight folgt mit «Blue Gangsta» eine kurze Verschnaufpause. Über ein ruhiges, sphärisches Intro baut Michael mit seinem Organ eine düstere Stimmung auf und explodiert dann in den Refrain hinein. Einmal mehr wird man an die «History»-Phase erinnert, als Jackson auf die Pädophilie-Vorwürfe mit ungewohnt aggressivem Gesang reagierte und die Worte nur noch verbittert ausspuckte.
«Xscape»
Zum Abschluss fährt das Produzenten-Team nochmals grosses Geschütz auf: Der Beat donnert mit Chören, Streichern und Bläser-Samples, während der King of Pop jauchzt und heult als gäbe es kein Morgen. Der Song ist 2001 entstanden und zeigt Jackson in seiner letzten Phase: Aus dem braven Achtziger-Popstar ist ein paranoider Aussenseiter geworden, der keine Lust mehr hat, seine Stimme zu zähmen. Und wenn sich gegen Schluss all die Sound-Schichten auflösen und nur noch Jacksons Stimme nachhallt, weiss man, dass auch eine noch so aufgeblasene Produktion seinem Organ nichts anhaben kann.
Fazit:
Tatsächlich harmoniert der moderne Sound über weite Strecken mit Michael Jacksons ursprünglichen Aufnahmen. Das überrascht allerdings kaum – ist doch das aktuelle Musikgeschehen stark geprägt von Elementen aus den Achtzigerjahren, als Jackson die Songs einsang. So gesehen ergibt «Xscape» durchaus Sinn: Es ist plastische Chirurgie für die alten Songideen. Timbaland und Co. geben ihnen eine jüngere Klangästhetik, ohne dass der einzigartige Charakter der Stimme verloren geht.
Man braucht nicht zu erwähnen, dass sich «Xscape» niemals mit einem Meisterwerk wie «Thriller» vergleichen lässt. Michael Jackson steht aber auch in seinen schlechten Momenten weit über dem Niveau anderer Sänger. Ob er selbst – bekanntermassen ein absoluter Perfektionist – mit der Veröffentlichung einverstanden gewesen wäre, sei dahingestellt. Für den Grossteil seiner Fans dürfte «Xscape» aber eine Bereicherung sein.