Exklusivinterview mit Witali Klitschko: «Putin? Es hat keinen Sinn, mit einem kranken Mann zu sprechen»

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Exklusivinterview mit Witali Klitschko«Putin? Es hat keinen Sinn, mit einem kranken Mann zu sprechen»

Bevor er ans WEF fuhr, traf 20 Minuten Kiews Bürgermeister Witali Klitschko in seinem Büro zum Interview. 

«Wir kämpfen auch für euch und jeden in der Schweiz»: Witali Klitschko im Interview. 

Ann Guenter/ 20 Minuten

20 Minuten trifft Witali Klitschko, den Bürgermeister von Kiew, zum Interview. Es ist bereits das zweite Treffen in seinem Büro in der ukrainischen Hauptstadt. Ein erstes Interview hatte im Februar kurz vor Kriegsausbruch stattgefunden (hier zum Nachlesen).

Im Gegensatz zu damals trägt Klitschko keine Zivilkleidung mehr, sondern ein militärgrünes Oberteil mit Insignien der ukrainischen Armee. Er wirkt ernster, auch trauriger. «Die heutige Welt ist schwarz und weiss», sagt der 50-Jährige. Ein Gespräch über Sicherheit und Stimmung in seiner Stadt, EU, Nato und «Putin-Versteher», Blutgeld, Neutralität und halb schwanger sein.  

Herr Klitschko, Sie reisen ans WEF in Davos. Was erwarten Sie?

Ich habe das WEF bereits mehrfach besucht und weiss, dass es eine gute Plattform ist, um Politiker und Geschäftsleute zu treffen. Ich will natürlich über die Ukraine und über unseren Kampf für Frieden sprechen. Alle demokratischen Länder sollten daran interessiert sein, die Ukraine als grösstes Land Europas sowie die gesamte Region so schnell wie möglich zu befrieden. Denn dieser Krieg kann jedes europäische Land treffen.

Es ist einiges in Bewegung geraten. Finnland und Schweden wollen der Nato beitreten. Was ist Ihre Meinung dazu? 

Die Ukraine war neutral, nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen ist. Wir haben 1994 unsere Atomwaffen abgegeben, als Zeichen des Goodwills und Garantie unserer Neutralität. Russland hatte das damals respektiert und akzeptiert. Heute aber ist Russland ein Aggressor, der mit seinem Angriff jedes Gesetz und Versprechen gebrochen hat. Die Neutralität der Ukraine war also ein Fehler. Umso mehr verstehe ich den Wunsch Finnlands und Schwedens, als Nachbarländer Russlands in die Nato aufgenommen zu werden. Sie wollen sich schützen und die Nato ist dafür ein wichtiges Instrument.  

Dafür hat die Türkei offenbar kein Verständnis …

Ankara versucht zu verhandeln und die eigenen Interessen zu schützen. Nur: Wo liegt die Türkei, wo Finnland? Wie könnte Finnland türkische Sicherheitsinteressen stören? 

«Wir haben in der Sowjetunion gelebt und wollen dahin nicht zurück.»

Witali Klitschko

Ann Guenter/20Minuten

Nicht nur in die Nato, auch in die EU ist Bewegung gekommen. Die Ukraine hat soeben ein offizielles EU-Beitrittsgesuch gestellt. Was bedeutet das für Sie? 

Das einzige, was in diesem sinnlosen Krieg Sinn macht, ist unser Wunsch, Teil der europäischen Familie zu sein. Wir wollen ein europäisches, demokratisches, modernes Land aufbauen. Doch das passt nicht in die russische Vorstellung. 

Wie sieht denn diese Vorstellung Ihrer Meinung nach aus? 

Russland sieht die Ukraine als Teil eines russischen oder gar sowjetischen Imperiums, das Herr Putin wieder aufbauen will. Aber wir wollen nicht unter Autoritarismus oder in einer Diktatur leben. Wir sehen unsere Zukunft als demokratisches Land, in dem es Werte wie Menschenrechte und Pressefreiheit gibt. Das ist unsere Priorität in diesem Krieg. Im Moment kämpfen wir. Nicht nur, um unser Land zu schützen, sondern auch die Zukunft unserer Kinder. Denn wir haben in der Sowjetunion gelebt und wollen dahin nicht zurück. Wir wollen nicht «back to the USSR».

Manche Stimmen in der EU sagen, man solle kein Land aufnehmen, das sich in einem offenen Krieg befindet. 

Jeder muss verstehen: Wir verteidigen nicht nur uns, sondern auch die Werte, die jeder Europäer teilt. Leider gibt es noch einige sogenannte Putin-Versteher, die sagen, dass man die Sicht auf Russland mehr balancieren müsse. Das verstehe ich nicht. Man kann nicht auf zwei Hochzeiten tanzen. Die heutige Welt ist schwarz und weiss und man muss einfach klar sagen: Entweder man unterstützt den Frieden und die Ukraine oder man unterstützt den Krieg und steht auf der Seite Russlands. 

«Das Blut auf dem Geld ist ukrainisches Blut.»

Witali Klitschko

Ann Guenter/ 20 Minuten

Gehen Ihnen die westlichen Sanktionen gegen Russland weit genug? 

Nein. Dazu will ich sagen: Jede Geschäfts- und Handelsbeziehung zu Russland, jeder Euro, jeder Cent, die oder der aus Europa kommt, gehen nicht in die russische Wirtschaft und ans russische Volk, sondern direkt in die russische Armee. Und danach sehen wir die Aggressionen Russlands, wir sehen die Bilder des Wahnsinns, in dem Tausende Ukrainer sterben. Deswegen lautet meine Botschaft an jeden Europäer: Jedes Geld, das jetzt noch in Russland ankommt, ist blutiges Geld. Und das Blut auf dem Geld ist ukrainisches Blut. 

Es gibt die Befürchtung vor einem langjährigen Stellungskrieg in der Ukraine. Teilen Sie diese? 

Keiner kennt die langfristigen Pläne von Herrn Putin. Es ist kein Geheimnis, dass er die Sowjetunion wieder aufbauen will, er hat es selbst schon erwähnt. Doch wir wissen nicht, wo diese Pläne Halt machen. Sie enden offensichtlich nicht an der Grenze von Donetsk-Lugansk, sondern wahrscheinlich an der Grenze zu Polen. Wir hören aus dem Kreml auch verschiedene Stimmen, welche die baltischen Länder ins Spiel bringen. Dieser Krieg birgt eine riesige Gefahr für ganz Europa. 

«Es hat keinen Sinn, mit einem kranken Mann zu sprechen.»

Witali Klitschko

Ann Guenter/20Minuten

Was, wenn das Interesse am Krieg in der Ukraine im Westen nachlässt?

Wir kämpfen so oder so und verteidigen unsere territoriale Integrität. Deswegen ist die klare Positionierung aller europäischen Länder so wichtig. Jetzt neutral zu sein, das ist wie halb schwanger zu sein. Dabei ist Krieg in der modernen Zeit eine Dummheit, eine ungesunde Idee von einem ungesunden Mann. 

Apropos, was würden Sie Wladimir Putin sagen? 

Es hat keinen Sinn, mit einem kranken Mann zu sprechen. Er ist nicht gesund. Was er in der Ukraine tut – das kann nicht die Entscheidung eines gesunden Gehirns sein. Es ist eine Tragödie. Nicht nur wegen der Ukraine und für Europa, sondern auch für ganz Russland. 

Sprechen wir von Ihrer Stadt. Die Versorgung ist lückenhaft, Benzin zu kriegen, ist ein riesiges Problem. Wie kommen Sie damit zurecht, was können Sie tun?

Es ist kein Geheimnis, dass der Krieg unsere Wirtschaft, Logistik und Infrastruktur zerstört hat. Wir erleben einen grossen wirtschaftlichen Druck. Vieles funktioniert nicht, wir sehen Milliarden-Dollar-Verluste allein in der Landwirtschaft. Wir haben Millionen Flüchtlinge und Arbeitslose. Es ist eine schwierige Zeit. Aber ich bin überzeugt, dass wir den Mut und den Willen haben, dies durchzustehen und unser europäisches Land aufzubauen. 

Die Ausgangssperre ist gelockert worden, die Menschen ignorieren die regelmässigen Sirenenwarnungen zunehmend. Ein Problem oder Zeichen für eine Normalisierung in Kiew?

Niemand kann sich sicher fühlen, weder in Kiew noch sonst wo im Land. Auch jetzt kann eine russische Rakete jedes Gebäude treffen. Von Normalisierung kann keine Rede sein. Die Leute haben sich zwar an die Sirenen gewöhnt, das stimmt schon. Aber man spürt die Spannung in der Luft – und das im Mai, dem schönsten Monat im ganzen Jahr hier. Aber jetzt sind die Strassen halbleer, die Leute sind nicht relaxed, ein Lachen auf den Gesichtern ist nur selten zu sehen.

Zum Schluss: Was ist eigentlich europäisch an der Ukraine?

Wir sind Europäer – mit unserer Mentalität, in unserer Vision, unserer Geschichte und auch aufgrund unserer geografischen Lage. Unser Ziel ist es, europäische Werte zu realisieren, das ist der Wunsch eines jeden Ukrainers. Für diese Vision und unsere Zukunft kämpfen wir. 

Wer ist Witali Klitschko? 

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