Vorlesung gestürmt: Prügeln, spucken, Blätter zerreissen – Queer-Aktionen an Uni immer radikaler  

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Vorlesung gestürmtPrügeln, spucken, Blätter zerreissen – Queer-Aktionen an Uni immer radikaler

Demonstrierende der LGBTIQ-Community stürmten zweimal eine Vorlesung an der Uni Genf. Diese erstattet Strafanzeige. Organisationen selber fordern, dass die Gewalt gestoppt wird.

Schon Ende April störten LGBTIQ-Aktivisten des Collectif Radical d’Action Queer (CRAQ) eine Veranstaltung der Uni Genf zum Buch «La fabrique de l’enfant transgenre».
Am 17. Mai musste das Referat des Pariser Literaturprofessors Éric Marty abgebrochen werden.
Das Buch, das Marty vorstellte, – «Le sexe des Modernes» – passte den Aktivistinnen und Aktivisten nicht.
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Schon Ende April störten LGBTIQ-Aktivisten des Collectif Radical d’Action Queer (CRAQ) eine Veranstaltung der Uni Genf zum Buch «La fabrique de l’enfant transgenre».

Screenshot/20 Minutes

Darum gehts

Das Referat des Pariser Literaturprofessors Éric Marty am 17. Mai an der Uni Genf musste abgebrochen werden. Aktivistinnen und Aktivisten der Conférence Universitaire des Associations d'Etudiant.e.x.s (CUAE) hatten die Veranstaltung gestürmt. Laut Augenzeugen- und Medienberichten wurde gespuckt, geprügelt, Blätter wurden zerrissen und die Anwesenden mit Flüssigkeiten übergossen. Das Buch, das Marty vorstellte, – «Le sexe des Modernes» – passte ihnen nicht.

Schon Ende April störten LGBTIQ-Aktivisten des Collectif Radical d’Action Queer (CRAQ) eine Veranstaltung zum Buch «La fabrique de l’enfant transgenre». Es ging um den Trend, dass Jugendliche ihr Geschlecht wechseln wollen. Nach dem zweiten Vorfall kündigte der Rektor an, Strafanzeige gegen Unbekannt einzureichen.

«Wettbewerb der Radikalisierung»

Lynn Bertholet, Präsidentin des Vereins Epicène, der sich für die Anliegen von trans Menschen einsetzt, war bei der ersten Veranstaltung als Zuhörerin dabei. Die beiden diskutierten Werke seien sehr kontrovers und enthielten für LGBTIQ-Menschen beleidigende Aussagen und Passagen, sagt Bertholet. «So werden in ‹La fabrique de l’enfant transgenre› trans Menschen sowie unterstützende Ärzte und Organisationen als grosse Sekte bezeichnet.» Und in Eric Martys Buch würden die Erkenntnisse der modernen Geschlechterforschung relativiert und demontiert. Auch komme dort der Begriff «hermaphrodite» vor, was so viel bedeutet wie «Zwitter».

Dennoch sagt Lynn Bertholet: «Die Diskussion über diese Werke muss möglich sein. Wir haben starke Argumente. Es geht nicht, dass man Gewalt anwendet, wie das insbesondere beim zweiten Sturm auf die Vorlesung am 17. Mai geschehen ist.» Der Grund dafür, dass die Situation im Kanton Genf so eskalieren konnte, sei eine Radikalisierung auf beiden Seiten in den letzten Monaten. Eltern hätten die Geschlechtsumwandlung ihrer fast erwachsenen Kinder auf gerichtlichem Weg verhindert, involvierte Ärzte seien denunziert worden. Es finde ein Kulturkampf statt.

Bertholet: «Diese jungen Protestierenden fühlen sich offensichtlich beleidigt und nicht wahrgenommen.» Das sei der Grund für die Radikalisierung. «Manchmal scheint es mir, als würde ein Wettbewerb der Radikalisierung stattfinden.»

Dachverband Regenbogenfamilien ist alarmiert

Andere Verbände schliessen sich der Kritik an. Maria von Känel, Geschäftsleiterin des Dachverbands Regenbogenfamilien, ist alarmiert. Der Verband lehne jede Form von Gewalt ab, sagt sie. Gerade LGBTIQ-Personen seien sehr stark sensibilisiert im Hinblick auf Gewalt, da sie im Alltag mit Unterdrückung verschiedenster Art konfrontiert seien. «Was sich an der Universität Genf abgespielt hat, geht gar nicht.» Sie begrüsse es, dass der Rektor nicht bloss Strafanzeige erstatte, was folgerichtig sei, sondern auch den Dialog mit den Betroffenen pflegen wolle.

«Es ist jetzt sehr wichtig, dass man hinschaut und das Problem angeht», sagt von Känel. Denn erstens hätten solche Vorfälle das Potenzial, die öffentliche Stimmung gegen LGBTIQ-Menschen aufzubringen. «Das kann schnell kippen, deshalb sind solche Situationen gefährlich.» Zweitens gelte es, dafür zu sorgen, dass die Situation in Genf nicht weiter eskaliere und sich die Gewalt nicht ausweite. «Man muss jetzt so schnell wie möglich agieren und darf nicht zuwarten. Es ist wichtig, dass ein konstruktiver, gewaltfreier Dialog stattfindet.»

«Gewalt polarisiert»

Ueli Mäder, Soziologe und Konfliktforscher, begrüsst, dass sich die LGBTIQ-Community im Sinne einer freiheitlichen Gesellschaft gegen Ansichten wehrt, die sie nicht teilt. Kreativ aufmüpfige Aktionen seien besonders förderlich. Jedoch: «Gewalt polarisiert, was der eigenen Sache kaum dient.» In der Folge erhalte nur noch die Gewalt öffentliche Aufmerksamkeit, was bei inhaltlichen Anliegen nicht mehr der Fall sei. «Widerständige Kritik muss möglichst so geübt werden, dass sie verstanden wird und weiterführt.» 

LGBTIQ: Hast du Fragen oder Probleme?

Hier findest du Hilfe:

LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133

Du-bist-du.ch, Beratung und Information

InterAction, Beratung und Information für intergeschlechtliche Menschen, Tel. 079 104 81 69

Lilli.ch, Information und Verzeichnis von Beratungsstellen

Milchjugend, Übersicht von Jugendgruppen

Elternberatung, Tel. 058 261 61 61

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

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