Sozialexpertin Michelle Beyeler«Roboter zahlen schliesslich keine AHV»
Sozialpolitik-Expertin Michelle Beyeler erklärt, was beim Scheitern der Altersreform passiert – und warum weitere Schritte bitter nötig sind.
Frau Beyeler, Sie sind 43 Jahre alt. Glauben Sie, dass Sie im Alter eine Rente erhalten werden, die zum Leben reicht?
Ja, ich persönlich bin zuversichtlich, dass meine Altersvorsorge reichen wird.
Im Herbst stimmt die Bevölkerung über die Altersreform 2020 ab, auf die sich das Parlament nach dreijährigem Seilziehen mit Müh und Not geeinigt hat. Welche Chancen geben sie dem Paket an der Urne?
Einfach wird es nicht: Seit 1997, also seit zwanzig Jahren, ist an der Urne keine Altersreform mehr durchgekommen. Die Vergangenheit zeigt, dass solche Reformen nur eine Chance haben, wenn sie sehr ausgewogen sind – das war bei den letzten Versuchen nicht der Fall. Die aktuelle Reform hingegen ist ein gut schweizerischer Kompromiss. Darum sehe ich realistische Chancen auf eine Annahme.
Welches ist die grösste Schwachstelle der Reform? Wo ist sie angreifbar?
Das Problem ist, dass der Widerstand aus ganz verschiedenen Lagern kommt: Ein Teil der Frauen könnte sich gegen das Rentenalter 65 stellen. Rechtsliberale Kreise machen sich für eine günstigere Lösung stark, die Arbeitgeber wollen keine höheren Renten finanzieren. Junge wehren sich teilweise gegen höhere Lohnabzüge und Steuern. Und bestehende Rentner könnten sich daran stören, dass sie im Gegensatz zu den Neurentnern nicht vom AHV-Zustupf von 70 Franken profitieren. Allerdings muss sich jede dieser Gruppen fragen: Was ist die Alternative, wenn die Vorlage scheitert?
Sagen Sie es uns.
Den Modellrechnungen des Bundes zufolge ist die AHV im Jahr 2030 praktisch bankrott. Nichts zu machen heisst, dass mit Steuergeldern nachgeholfen werden müsste, um die Renten weiter zu finanzieren. Auch Pensionskassen müssten allenfalls mit Steuergeldern gerettet werden. Das System könnte schlimmstenfalls kollabieren. Ich gehe darum davon aus, dass gerade bei den Jungen die meisten die Kröte höherer Lohnabzüge schlucken werden. Grundsätzlich können Sozialwerke nur aufrechterhalten werden, wenn ein gewisser Solidaritätsgedanke da ist, und nicht jeder rein nach seinen kurzfristigen Interessen stimmt.
Heute unterstützen nur gerade die CVP und die SP das Paket mit Überzeugung. Reicht das wirklich, um die Reform unter solchen Umständen ins Ziel zu bringen?
Entscheidend wird sein, wie stark die Vorlage von der Wirtschaft und den rechten Parteien bekämpft wird. Möglicherweise wird sich eine FDP damit begnügen, die Nein-Parole auszugeben, ohne danach viel Kraft in den Abstimmungskampf zu stecken. Auch die Bürgerlichen müssen sich fragen: Gibt es in realistischer Frist eine andere mehrheitsfähige Lösung zur Sicherung der Altersvorsorge?
Der Gewerbeverband liebäugelt damit, die Reform aufzuspalten und die AHV und die Pensionskasse separat zu sanieren. Böte diese Variante nicht weniger Angriffsfläche als eine solche Monstervorlage?
Im Gegenteil! Gerade, weil so viele Interessen mitspielen, sind solche Reformen nur mehrheitsfähig, wenn Gegengeschäfte möglich sind. Im aktuellen Fall wird die Senkung des Umwandlungssatzes etwa mit dem AHV-Zustupf von 70 Franken teilweise kompensiert.
Spätestens 2030 ist laut dem Bund sowieso wieder eine Reform nötig. Für die Zeit danach gibt es auch keine Modellrechnungen. Ein NZZ-Journalist verglich die Situation mit einem Sprung aus dem 50. Stock eines Hochhauses – der Bund prognostiziere, im 20. Stock sei alles noch im grünen Bereich. Stimmt das Bild für Sie?
Nicht unbedingt (lacht). Nach 20 Jahren Reformstau ist nun ein erster Schritt nötig, auch wenn bereits klar ist, dass dieser nicht reichen wird. Bis 2030 wird sich in der Arbeitswelt ohnehin vieles verändern – Stichwort Digitalisierung. Roboter zahlen schliesslich keine AHV! Man muss sich schon überlegen, wer die Altersvorsorge finanziert, wenn immer weniger Arbeit von Menschen gemacht wird und somit der Produktionsfaktor Kapital – dazu zählen Maschinen und Roboter – an Bedeutung gewinnt.
Welche Lösung schlagen Sie vor?
Ich hätte beispielsweise stärker auf eine Erhöhung der Mehrwertsteuer gesetzt. Diese Steuer fällt auf allen Produktionsfaktoren an, auch auf den Output von Maschinen. Wenn ich eine ganz radikale Lösung einführen könnte – was natürlich in unserem System nicht geht – würde ich das staatliche Engagement auf eine obligatorische Pflegeversicherung kombiniert mit einer existenzsichernden Grundrente reduzieren. Was darüber hinausgeht, sollte nicht primär Sache des Staats sein, sondern in privater Verantwortung liegen. Ein ähnliches System kennt beispielsweise Dänemark.