Ukraine-KriegDarum lässt Putin jetzt wieder die Hauptstadt Kiew beschiessen
Am frühen Sonntagmorgen schlugen mehrere russische Raketen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew ein. Zuvor hatte sich das Kriegsgeschehen wochenlang auf den Osten des Landes konzentriert. Ein Experte ordnet ein.
Darum gehts
Die ukrainische Hauptstadt Kiew war in den letzten Wochen von russischen Angriffen grösstenteils verschont geblieben. Das hat sich am Sonntag geändert: Am frühen Morgen wurde die Hauptstadt infolge russischer Raketenangriffe von mehreren Explosionen erschüttert. Eine Rakete habe ein neunstöckiges Wohnhaus getroffen, schrieb Anton Heraschtschenko, ein Berater des ukrainischen Innenministers, im Nachrichtendienst Telegram. Eine weitere Rakete sei auf dem Gelände eines Kindergartens eingeschlagen.
F. Benjamin Schenk ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel. Er erklärt, was die neuerlichen Angriffe auf Kiew bedeuten, was sie über die Kriegsziele Russlands aussagen und welche Folgen sie für den Rest von Europa haben könnten.
Am Sonntag kam es zu mehreren Raketenangriffen auf Kiew. Hat Sie das überrascht?
Die erneuten Raketenangriffe auf Kiew sind schrecklich und erschütternd, überrascht haben sie mich jedoch leider nicht.
Wurde Kiew in den letzten Wochen nicht mehrheitlich verschont von russischen Angriffen?
Ja, das stimmt. In den vergangenen Wochen konzentrierte sich der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auf den Südosten des Landes. Es kam zwischenzeitlich aber auch immer wieder zu Raketenbeschuss auf Ziele im Westen, Süden und im Zentrum des Landes.
Was könnten Gründe sein, dass die Hauptstadt jetzt wieder angegriffen wird?
An den russischen Kriegszielen hat sich nach dem Abbruch des ersten russischen Grossangriffs gegen die ukrainische Hauptstadt nichts geändert. Russlands Ziel ist nach wie vor die Unterwerfung der ukrainischen Nation und die Zerstörung des ukrainischen Staates in seiner heutigen Form. Die vorübergehende Konzentration der Kampfhandlungen auf den Südosten der Ukraine bedeutete meiner Meinung nach keine Abkehr von diesem Kurs, sondern nur einen vorübergehenden militärischen Strategiewechsel.
Glaubst du an ein baldiges Ende dieses Kriegs?
Russland konnte im Osten des Landes mit der Eroberung von Sjewjerodonezk einen Erfolg verbuchen. Könnte dies Russland in den Bestrebungen, die Hauptstadt einzunehmen, wieder bestärkt haben?
Die Eroberung von Sjewjerodonezk könnte ein Grund für den erneuten Angriff auf Kiew sein. Ein anderer aber auch der aktuelle G7-Gipfel in Elmau, wo die Staatschefs der führenden Wirtschaftsmächte voraussichtlich neue Sanktionen gegen Russland respektive den Handel mit Gold aus Russland verhängen werden. Das Zeichen Russlands an die G7 könnte sein: Wir lassen uns von euren wirtschaftspolitischen Entscheidungen nicht von unserem zentralen Kriegsziel in der Ukraine abbringen.
Gehen Sie davon aus, dass Kiew jetzt wieder ins Zentrum der russischen Angriffe rücken wird?
Das lässt sich von meiner Warte nicht sagen. Vermutlich wird Russland aber an seiner aktuellen Kriegsstrategie in den kommenden Wochen und Monaten unvermindert festhalten: ein verlustreicher Zermürbungs- und territorialer Eroberungskrieg im Süden und Osten der Ukraine gepaart mit Luftschlägen durch Langstreckenwaffen gegen Ziele im Westen, Zentrum und Norden des Landes. Letztere zielen neben der Zerstörung militärischer Infrastruktur vor allem auf die Terrorisierung der ukrainischen Bevölkerung.
Viele Menschen sind in den letzten Wochen wieder ins vermeintlich sichere Kiew zurückgekehrt. Könnten die russischen Angriffe auf die Hauptstadt erneute Flüchtlingsströme auslösen?
Ja, zweifelsohne. Leider ist die Provokation von grossen Flüchtlingsbewegungen nach Westen aus meiner Sicht eines von vielen strategischen Instrumenten in Russlands hybridem Angriffskrieg. Wir sollten nicht vergessen, dass sich Russland längst in einem grossmassstäblichen Krieg gegen den gesamten «Westen» sieht. Dieser Krieg wird auf russischer Seite mit verschiedenen Mitteln geführt. Grosse Flüchtlingsbewegungen in westliche Staaten sollen dabei offenbar nicht nur durch den Beschuss ziviler Infrastruktur in der Ukraine, sondern auch durch die Blockade ukrainischer Getreideexporte und die Herbeiführung einer Hungerkatastrophe im globalen Süden provoziert werden.
Beschäftigt dich oder jemanden, den du kennst, der Krieg in der Ukraine?
Hier findest du Hilfe für dich und andere:
Fragen und Antworten zum Krieg in der Ukraine (Staatssekretariat für Migration)
Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer SRK, Tel. 058 400 47 77
Kriegsangst?, Tipps von Pro Juventute
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Anmeldung und Infos für Gastfamilien:
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Tel. 058 105 05 55