Bildung nach Flucht – Schulen bereiten sich auf Welle von Flüchtlingskindern vor

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Bildung nach FluchtSchulen bereiten sich auf Welle von Flüchtlingskindern vor

Erste ukrainische Kinder besuchen in der Schweiz bereits den Regel-Unterricht. Lehrer und linke Politiker wollen die Integration rasch vorantreiben. SVP-Vertreter befürchten Unruhen.

Aktuell befinden sich rund 1000 Ukraine-Flüchtlinge in der Schweiz – viele von ihnen sind schulpflichtig. 
Am 23. Februar sassen die ukrainischen Kinder noch in ihrem gewohnten Schulzimmer. Etliche von ihnen zählen zu den mittlerweile zwei Millionen Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten.
Die Schule muss alles versuchen, diesen Kindern einen sicheren Ort zu bieten, wo sie wenigstens für einige Stunden ihr Leid vergessen können», sagt Dagmar Rösler, Präsidentin des Lehrerverbands. 
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Aktuell befinden sich rund 1000 Ukraine-Flüchtlinge in der Schweiz – viele von ihnen sind schulpflichtig. 

AFP

Darum gehts

Am 23. Februar sassen die ukrainischen Kinder noch in ihrem gewohnten Schulzimmer. Etliche von ihnen zählen zu den mittlerweile zwei Millionen Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten. Der Schutzstatus S ermöglicht allen in die Schweiz geflüchteten Kindern im schulpflichtigen Alter den Zugang zur Bildung. Aktuell befinden sich rund 1000 Ukraine-Flüchtlinge in der Schweiz. Rund jeder Fünfte von ihnen ist Auskünften des Staatssekretariats für Migration (SEM) zufolge unter 18-jährig.

Erste ukrainische Kinder und Jugendliche gehen in der Schweiz bereits zur Schule – etwa in Eschlikon TG, wo seit Montag drei von ihnen den Unterricht besuchen, wie SRF berichtete. Der grösste Teil der bisher in der Schweiz Angekommenen ist in Bundesasylzentren untergebracht und wird dort unterrichtet. 237 sind laut SEM bis jetzt privat untergebracht. In diesem Fall werden die Kinder gleich eingeschult.

Auch an Hochschulen funktioniert die Aufnahme zum Teil unkompliziert. Etwa das Departement Design und Kunst an der Hochschule Luzern hat 20 Studierende der Partnerhochschule der Nationalen Kunstakademie in Lviv aufgenommen.

«Schule muss ein sicherer Ort sein»

Schulverbände fordern ein rasches Vorgehen. Ukrainische Kinder hätten Schreckliches erlebt, bevor sie in die Schweiz gekommen seien, sagt Dagmar Rösler, Präsidentin des Lehrerverbands. «Die Schule muss alles versuchen, diesen Kindern einen sicheren Ort zu bieten, wo sie wenigstens für einige Stunden ihr Leid vergessen können.»

Christine Schraner Burgener, Staatssekretärin für Migration, rechnete am Montag mit rund 1000 Registrierungen ukrainischer Flüchtlingen pro Woche. Die Flüchtlingswelle trifft die Schulen aber an einem wunden Punkt: In der Schweiz herrscht seit Jahren akuter Lehrermangel.

Die grüne Zürcher Kantonsrätin Karin Fehr Thoma sagte kürzlich dem Tages-Anzeiger: «Es ist jedes Jahr ein riesiges Puzzle, alle Stellen zu besetzen.» Zudem meldete der Kanton Bern im Sommer 2021 über 200 unbesetzte Stellen an den Volksschulen – viermal mehr als 2019. Dagmar Rösler: «Man kann ja nicht von heute auf morgen neues Personal aus dem Hut zaubern, aber man muss sicherlich versuchen, alle Ressourcen zu aktivieren, die noch zur Verfügung stehen.»

Nothilfe für Menschen in der Ukraine

Kreative Lösungen seien gefragt

Auch Thomas Minder, Präsident des Verbands der Schweizer Schulleiterinnen und Schulleiter, sagt: «Es wird angesichts des Lehrermangels eine besondere Herausforderung, wenn wir auf einen Schlag Flüchtlinge haben, die spezielle Betreuung brauchen.» Kreative Lösungen seien gefragt. Etwas vom Wichtigsten sei, dass die geflüchteten Kinder möglichst viel Normalität erlebten. «Und Normalität heisst nicht, diese Kinder in spezielle ukrainische Klassen zu stecken, sondern sie in den regulären Schulalltag zu integrieren.»

Linke Bildungspolitikerinnen und -politiker schliessen sich an. Es sei eine absolute Ausnahmesituation, dass innerhalb von so kurzer Zeit so viele Menschen in andere Länder flüchteten, sagt SP-Nationalrätin und Lehrerin Sandra Locher Benguerel. «Die Kantone müssen sich jetzt mit Hochdruck auf die schulische Integration dieser Kinder vorbereiten.» Damit die Flüchtlinge möglichst schnell in der Schweiz eingeschult werden könnten, brauche es von den Kantonen sowohl personelle als auch finanzielle Unterstützung. Wichtig sei, auch die Ressourcen der Flüchtlinge zu nutzen. «Unter den Ukrainerinnen sind auch zahlreiche geflüchtete Lehrerinnen, die in den Schulen zumindest in der Anfangsphase eingesetzt werden können.»

Die Kantone treffen bereits Vorbereitungen. «Zurzeit ist man daran, zu klären wer ab wann zur Schule geht und welche Ressourcen es dafür braucht», heisst es beim Sozialdepartement des Kantons Aargau. Ähnlich klingt es aus dem Kanton St. Gallen. Die Zürcher Bildungsdirektion meldet auf Anfrage, die Schulgemeinden hätten bereits viel Erfahrung mit Geflüchteten. «Sie können schnell und adäquat reagieren, um neu zugezogene Kinder in den Regelunterricht zu integrieren.»

«Problem kumuliert sich nur»

SVP-Nationalräte halten dagegen. Eine solche Integration bringe viel Unruhe ins Schulsystem, sagt Barbara Steinemann, Mitglied der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats. «Das ist weder für die ukrainischen Kinder noch für unsere Kinder gut.» Besser seien Unterrichtsangebote in den Asylunterkünften.

Auch Martin Haab, Mitglied der Bildungskommission, sagt: «Wir haben in den Regelklassen jetzt schon Kinder mit Verständigungsproblemen. Das Problem kumuliert sich nur, werden ukrainische Kinder integriert.» Ohnehin wollten die meisten ukrainischen Flüchtlinge nicht auf lange Frist im Ausland bleiben. «Daher ist die Einschulung nicht das dringendste Problem.»

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