Schweizer IS-Kämpfer spricht mit 20 Minuten

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Exklusiv aus SyrienSchweizer IS-Kämpfer spricht mit 20 Minuten

Abu Wael al-Swissri kämpfte in Syrien und im Irak in einer Elite-Einheit des IS. Lange war der Verbleib des Lausanners unklar. 20 Minuten hat ihn aufgespürt.

Ann Guenter
Syrien
von
Ann Guenter
Syrien
Reporterin Ann Guenter hat den 25-jährigen IS-Kämpfer Abu Wael al-Swissri aus Lausanne im Gefängnis getroffen.
Er (mit bürgerlichem Namen Aziz B.*) und seine Schweizer Ehefrau Selina folgten der Propagandabotschaft des IS ins «Kalifat». «Nach drei Tagen erkannte ich, dass es ein Fehler war», behauptet der 25-Jährige jetzt.
Der im Januar 2017 durch die irakische Armee in Mosul sichergestellte IS-Ausweis.
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Reporterin Ann Guenter hat den 25-jährigen IS-Kämpfer Abu Wael al-Swissri aus Lausanne im Gefängnis getroffen.

20 Minuten

Ein schwarz maskierter Soldat bringt ihn in den Raum. Sein Bart ist gestutzt, das Haar zusammengebunden, die Wangen eingefallen. Er ist gross, gut 1.90 Meter. «Ich habe seit drei Jahren keinen Schweizer mehr gesehen! Ich bin froh, dass ich mit Ihnen sprechen kann. Es gibt mir das Gefühl, dass man mich hier nicht vergessen hat», sagt er.

Der 25-Jährige ist beim IS unter dem Kampfnamen Abu Wael al-Swissri bekannt, in Lausanne heisst er Aziz B.* Die Hosen hat er übe die Knöchel hochgekrempelt, so wie er es sicher seit drei Jahren tut. Denn im «Islamischen Staat» (IS) darf der Stoff der Hosenbeine den Boden nicht berühren. Dies gilt als «unrein». Aziz spricht leise, monoton, mit tiefer Stimme. Er will seine Geschichte detailliert erzählen. Er redet zwei Stunden lang.

2013 konvertierte der Mann schweizerisch-bosnischer Herkunft nach eigenen Angaben zum Islam. Er radikalisierte sich bald, traf in Lausanne in der Moschee von Prélaz mit bosnischen Extremisten zusammen. 2015 heiratete er seine Frau Selina* – eine Schweizerin bosnischer Abstammung, ebenfalls aus Lausanne. Jetzt sitzt auch sie in Nordsyrien, in einem geschlossenen Camp für Familien von IS-Kämpfern, rund eine Stunde von Qamishli entfernt.

20 Minuten kann sich nur kurz mit der jungen Frau unterhalten: «Ich bin froh, von Daesh weg zu sein», sagt sie, «ich bin glücklich, am Leben zu sein.» Ob sie auch an die Zehntausenden Frauen denkt, die unter dem IS vergewaltigt, versklavt, gefoltert, getötet wurden? Bevor wir Selina diese Frage stellen können, führen uns Sicherheitskräfte weg.

Wie so viele den IS-Propagandabotschaften erlegen

Es ist das altbekannte Lied: Aziz und Selina kamen über Twitter mit einem IS-Rekrutierer in Kontakt. Er wies sie an, über Istanbul via Antalya und Alanya nach Gaziantep zu gehen, 2015 setzten sie nach Ar Ra'i in Syrien über – die klassische Route westlicher IS-Kämpfer. Auch das Motiv ist längst bekannt: Er und Selina folgten der Propagandabotschaft des IS, wonach jeder gute Muslim ins «Kalifat» der Terrormiliz aufbrechen muss, so wie einst Prophet Mohammed von Mekka nach Medina aufgebrochen war.

«Nach drei Tagen erkannte ich, dass es ein Fehler war», behauptet der 25-Jährige jetzt. «Am ersten Tag liessen sie uns schlafen, am zweiten nahmen sie mir den Pass ab, am dritten fragten sie mich, was für eine Aufgabe ich übernehmen wolle. Als ich sagte, dass ich in die Koranschule gehen wolle, antworteten sie: ‹Nein, mein Freund, du bist hier, um zu sterben.› Ich dachte erst, sie scherzen.»

In der IS-Hauptstadt Raqqa wurde er von Selina getrennt. Aziz sollte den zweiwöchigen Shariakurs und das 45-tägige Militärtraining absolvieren. Er sollte an Waffen ausgebildet werden, sich für «den Kampf gegen die Ungläubigen rüsten». «Ich weigerte mich, ich wollte nicht kämpfen. Sie erwiderten, es sei meine Pflicht. Also sagte ich ihnen, dass ich wieder zurückreisen wolle. Sie lachten nur. ‹Du kannst nicht mehr zurück!›» Über einen Botenjungen habe er seiner Frau versteckte Nachrichten zugespielt: «Der IS lügt, es ist alles eine Lüge, wir müssen fort von hier.»

In Raqqa erkennen Anwohner al-Swissri. Ebenso der Imam der Moschee, in der der Schweizer betete.

20 Minuten machte sich in Raqqa auf Spurensuche.

«Ich weiss nicht, was ich noch glauben soll»

Aziz beharrt darauf, nie für den IS gekämpft zu haben, nie jemanden getötet zu haben. Wie viele andere inhaftierte ISler stellt er sich als Opfer dar. Als einen, der naiv in sein Verderben gerannt ist, wo er doch das Sharia-Paradies erwartet habe. Als einen, der nicht gewusst haben will, was der IS von seinen Mitgliedern erwartet: Kampf kommt vor Koranlesen.

Als die Schweizer ins IS-Kalifat aufbrachen, hatte die Terrormiliz Hochkonjunktur. Die Extremisten köpften Journalisten vor laufender Kamera, vergewaltigten ihre jesidischen Sklavinnen, töteten Menschen mit unglaublichem Sadismus. Rechtfertigt ein Leben im «Kalifat» diese Grausamkeiten? «Nein», sagt Aziz, allerdings ohne rechten Nachdruck. «Verstehen Sie, der IS zeigte ein Leben voller Möglichkeiten für Muslime auf. Und in den Kriegsvideos vermittelte er die Botschaft, dass er gegen das syrische Regime kämpft, das Muslime tötet. Ich dachte, es sei ein gerechter Kampf.»

Glaubt er das noch immer? «Nein», sagt er, «ich weiss nicht, was ich noch glauben soll.» Zu späte Einsichten des 25-Jährigen. Die angetretene Reise zum IS und der Umstand, dass er trotz allem drei Jahre bei der Terrormiliz blieb, entlarven seine Beteuerungen.

Wegen seiner angeblichen Weigerung, das Militärtraining zu absolvieren, erhielt er vorerst vom IS kaum Essen, geschweige denn ein Haus. Er knickte ein, als er einen Monat nach seiner Ankunft nach Mosul gebracht wurde: «Sie fesselten mich an eine Eisenstange und legten mir einen Reifen um den Hals. So liessen sie mich stundenlang in der Sonne stehen.»

Jetzt erlernt er Umgang an verschiedenen Waffentypen. Kalaschnikow, Dushka, Raketenwerfer. «Ich tat nur so», gibt der Schweizer an, «als sie mein Wissen testeten, konnte ich lediglich die Kalaschnikow bedienen.» Sie hätten ihn wieder mit dem Reifen bestraft.

Einziger Schweizer in einer Elite-Einheit

Nachdem Aziz das Training absolviert hatte, wurde er dem berüchtigten Bataillon Tariq bn Ziad zugeteilt. Das muss nicht heissen, dass der Schweizer herausragende militärische Fähigkeiten an den Tag gelegt hatte – zur Einheit kommen ausschliesslich Ausländer, viele mit marokkanischem oder algerischem Migrationshintergrund. «Es gab dort auch Leute aus Portugal, aus Spanien, viele Belgier und Franzosen. Sicher dreihundert Ausländer kämpften dort. Ich war der einzige Schweizer.»

Aziz beharrt darauf, dass er in dem Bataillon nicht habe kämpfen wollen. «Ich fiel deswegen in die Kategorie eines ‹Mutasaib›. Das ist einer, der keine Disziplin an den Tag legt, einer, der sich nicht an das Gesetz hält.» Im Januar 2017 durch die irakische Armee in Mosul sichergestellte Dokumente stützen seine Erzählungen teilweise. Abu Wael al-Swissri, so ist darin festgehalten, sei verheiratet mit einer Frau und besitze keine jesidischen Sklavinnen. Er verweigere den Kampf. Sein Status: «Problematisch».

Gemäss diesem Dokument begründete der Schweizer seine Weigerung zu kämpfen mit Knieproblemen. Eine für diese Einheit nicht ungewöhnliche Strategie: Über ein Dutzend Fälle sind dokumentiert, in denen Mitglieder des Tariq-bn-Ziad-Bataillons gesundheitliche Probleme – von Asthma bis Kopfweh – geltend machten. Die Moral der Kämpfer begann mit dem Verlust von grossen Städten wie Ramadi 2015/16 zu sinken.

«Ich blieb so oft wie möglich zu Hause»

Das Papier hält aber auch fest, dass al-Swissri Raketenwerfer des Typus RPG 12.7 und 14.5 sowie PKC-Maschinengewehre zu bedienen weiss – und nicht, wie er uns angibt, «nur Kalaschnikows». Aziz sagt, er habe grosse Probleme mit dem Gedächtnis, seit er die Reise zum IS angetreten habe. Aber eines weiss er: «Ich habe nie einen Menschen getötet».

Es scheint nicht besonders glaubhaft, dass der Schweizer nie an Kampfhandlungen teilgenommen hat. Besonders vor dem Hintergrund, dass er und seine Frau im Frühling 2016 zum «Ribat» nach Tel Kayf geschickt wurden: Aziz sollte in diesem 20 Kilometer von Mosul entfernten Dorf die Front gegen die langsam über die Niniveh-Ebene vorrückende Kurdenmiliz Peshermga verteidigen.

Da sie verheiratet sind, Aziz sein Training absolviert hatte und dem «Tariq bn Ziad»-Bataillon angehörte, erhielten sie in Tel Kayf ein Zimmer in einem Haus – es dürfte Christen gehört haben, die Hals über Kopf vor dem IS fliehen mussten. Acht Monate blieben Aziz und Selina in Tel Kayf.

Mit den zunehmenden Kämpfen nahm der Druck auf ihn zu. «Ich blieb so oft wie möglich zu Hause. Man begann mir vorzuwerfen, dass ich ein Spion sei. Sieben Franzosen und zwei Briten war dasselbe vorgeworfen worden. Man erschoss sie.» Aziz hatte nun Todesangst, er wollte endgültig fliehen. Über das Internet stand er täglich in Kontakt mit seinen Eltern. Er wolle zurück in die Schweiz, flehte er sie an. Die Schweizer Behörden seien eingeschaltet gewesen. «Sie rieten mir, in die Kurdenhauptstadt Erbil zu fliehen und in die Türkei zu fliegen. Doch meine Frau und ich hätten die vielen IS-Checkpoints nie passieren können. Ich bin weiss, ich sehe europäisch aus, ich konnte kaum Arabisch.»

«Die Geheimpolizei des IS suchte nach mir»

Mit einem Franzosen fuhren die Schweizer zurück in die syrische IS-Hauptstadt Raqqa. Aziz überzeigte den Mann, dass er in Syrien gegen das Regime und nicht im Irak kämpfen wollte. Wieso verschanzte er sich nicht im Irak, um sich den Peshmerga oder später der irakischen Spezialeinheit ISOF zu ergeben? «Es gab überall Luftangriffe, es gab Phosphorattacken. Es war die Hölle. Für meine mittlerweile schwangere Frau wäre es in Tel Kayf oder Mosul viel zu gefährlich gewesen», rechtfertigt er sich.

Für das Paar begann die Zeit der Flucht. Aziz und seine Frau flohen vor dem Krieg und vor dem IS. «Die Geheimpolizei des IS suchte nach mir.»

Sie kamen in der Stadt Hajin, noch heute IS-Hochburg, und benachbarten Dörfern unter. Es sei ihm nicht immer gelungen, unter dem Radar zu bleiben. Zwischenzeitlich habe ihn der IS festgenommen, gibt Aziz an. Er sei im Gefängnis gesessen, zu 30 Peitschenhieben verurteilt worden. Narben weist er keine auf: «Ich trug mehrere T-Shirts», behauptet er. Tatsächlich bestrafte der IS seine Mitglieder oft milder als «Ungläubige», auch aus Angst vor Revolten in den eigenen Reihen. Möglicherweise war auch die im Juni 2017 gestartete Offensive auf Raqqa ein Grund, den Schweizer relativ leicht zu bestrafen: Er sollte kampffähig bleiben.

Mit dem Fall Raqqas Ende 2017 forderte IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi Frauen und Kinder aus Hadjin zur Flucht auf. Die IS-Kämpfer aber sollten die Region Deir ez Zor verteidigen. Nicht wenige ISler nahmen dies zum Anlass zur Flucht. Auch Aziz und seine Frau hatten die Türkei zum Ziel, als sie im Januar 2018 von den Soldaten der Kurdenmiliz YPG festgenommen wurden.

Fahrt durchs zerstörte Raqqa.

«Lieber jage ich mir eine Kugel in den Kopf»

Sieben Monate ist Aziz nun in Gefangenschaft der syrischen Kurdenmiliz YPG. Die Kurden würden ihn gut behandeln, sagt er. Er betet fünfmal am Tag. «Sonst schauen dich die anderen IS-Gefangenen komisch an, es gäbe Probleme.» Aber er wisse nicht, ob er sich überhaupt noch als Muslime betrachte. «Es gibt so viele Sekten, die alle behaupten, den Islam zu vertreten. Ich bin dessen so müde.»

Er wolle unbedingt zurück in die Schweiz, fährt er fort, denn hier lebe er in totaler Ungewissheit, habe keine Ahnung, was mit ihm passieren werde. «Wenn ich jahrelang hierbleiben muss, jage ich mir lieber eine Kugel in den Kopf.» Er sei auch bereit, die Konsequenzen für sein Handeln zu übernehmen. «Ich gehe fünf, auch zehn Jahre in ein Schweizer Gefängnis. Dort können mich wenigstens meine Frau und mein Kind besuchen kommen.»

Die Reise nach Syrien nennt Aziz «den grössten Fehler meines Lebens.» Er bereut es, sich dem IS angeschlossen zu haben, beharrt aber darauf: Er habe nicht den Kampf gesucht, sondern ein gutes Leben als Muslim im «Kalifat» führen wollen. Die kurdischen Sicherheitskräfte haben derlei Beteuerungen schon zigmal gehört. Als sie den Schweizer Gefangenen abführen, witzeln sie: «Der IS hat nur hundert Kämpfer, aber Zehntausende Köche.»

*Name bekannt

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