Sie sterben, weil sie Frauen sind

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FemizideSie sterben, weil sie Frauen sind

In Buchs SG wird eine 22-Jährige Mutter getötet. Der mutmassliche Täter: ihr Freund. Femizid wird es genannt, wenn eine Frau aufgrund ihres Geschlechts getötet wird. Eine Expertin erklärt, was es mit dem Begriff auf sich hat und wie Femizide verhindert werden können.

Femizide gibt es weltweit. Hier ein Schild von Opfern in Frankreich.
Das «Red Shoes Project» ist eine Installation für den internationale Tag gegen Gewalt an Frauen.
Hier demonstrieren Frauen in Spanien gegen Gewalt an Frauen.
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Femizide gibt es weltweit. Hier ein Schild von Opfern in Frankreich.

AFP

Darum gehts

  • Wird eine Frau aufgrund ihres Geschlechts getötet, nennt sich das Femizid.

  • In der Schweiz stirbt jede zweite Woche eine Frau infolge häuslicher Gewalt.

  • Femizide beschäftigen Politik und Gesellschaft.

  • Eine Expertin erklärt, was gegen Femizide unternommen wird und welchen Einfluss Corona hat.

«Ein Femizid ist die fatalste Folge von häuslicher Gewalt», sagt Myriame Zufferey, Leiterin des Frauenhauses der Region Biel. Sie betreut seit 15 Jahren Frauen, die vor ihrem Partner flüchten müssen. «Manche Frauen sind sich bewusst, dass sie sich in Gefahr befinden. Und sie versuchen, aus der Gewaltspirale auszubrechen.» Doch dies sei unglaublich schwierig. «Die Frauen sind sich oftmals bewusst, dass es die reale Möglichkeit gibt, dass sie sterben könnten, wenn sie sich trennen.»

Jede Woche erfolgt in der Schweiz ein Tötungsversuch in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt. Alle zwei Wochen stirbt eine Frau, durchschnittlich sind es 25 Personen pro Jahr, die infolge häuslicher Gewalt ihr Leben verlieren. Das zeigen die Zahlen des Bundesamtes für Statistik für die Jahre 2009 bis 2018.

Eine Trennung sei oftmals auch die gefährlichste Situation in einer gewaltgeprägten Beziehung, sagt Zufferey. «Der Täter hat das Gefühl, er habe nichts mehr zu verlieren.»

Tödliche Gewalt an Frauen

Ein weltweites Problem

Der Duden definiert Femizid als «tödliche Gewalt gegen Frauen oder eine Frau aufgrund des Geschlechts». Der Begriff stammt ursprünglich aus den USA, wurde aber um die Jahrtausendwende von lateinamerikanischen Aktivistinnen aufgenommen. Schätzungen gehen davon aus, dass in Lateinamerika alle zwei Stunden eine Frau durch einen Mann getötet wird. Die Definition in der spanischen Sprache geht noch ein Stück weiter als der deutsche Duden: Ein «Feminicidio» bezeichnet die Ermordung einer Frau durch einen Mann wegen «Machismo» oder Frauenfeindlichkeit.

«Es kann nicht sein, dass ich mich als Frau in der Schweiz nicht von meinem Partner trennen kann, weil ich Angst habe, getötet zu werden», kritisiert Zufferey. «Femizide sind kein Frauenproblem. Sie sind kein privates Problem. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das von der Gesellschaft gelöst werden muss!»

Für Zufferey geht es vielmehr um die Sicherheit der Bevölkerung. «Das ist ein Grundrecht, welches der Staat gewährleisten muss.»

Lösungsansatz beim Täter

Myriame Zufferey steht hinter der Arbeit, die sie und ihr Team leisten. Aber sie sieht es nicht als Lösung für das Problem: «Man kann nicht nur die Opfer schützen, sondern man muss die Täter von ihrer Tat abhalten.» Von ihr aus gesehen müsste die Schweiz in diesem Bereich mehr leisten. «Es gibt gewisse Dynamiken, bevor es zu einem Femizid kommt: Kontrollen durch den Partner, Drohungen oder Stalking. Hier müsste man eingreifen, die Personen begleiten, sie Therapien machen lassen.» Doch es fehle an Ressourcen für die Arbeit mit Opfern und Tätern. «Aber die Langzeitfolgen häuslicher Gewalt kosten ein Land mehr, als Präventionsmaßnahmen. Wenn sich verhindern lässt, dass ein Kind sieht, wie der Vater die Mutter tötet, lässt sich das sowieso nicht beziffern.» Zufferey fordert darum auch, dass die Schweiz das Ziel anstrebt, keine Femizide mehr zu haben.

Angst vor Sparmassnahmen

Myriame Zufferey sieht, dass einige Kantone hier fortschrittlich sind und gute Arbeit leisten. «Aber eben nicht alle. Und ich befürchte, dass jetzt in der Pandemie an den falschen Orten gespart wird.» Ob Corona zu mehr häuslicher Gewalt und Femiziden führe, könne sie nicht sagen. «Wir hatten 2020 mehr zu tun als im Jahr davor. Aber nicht mehr, als in anderen Jahren. Eine Prognose ist schwierig. Es kann auch sein, dass sich Betroffene erst dieses oder nächstes Jahr trauen, Hilfe zu holen.»

Häusliche Gewalt kommt durch alle Bevölkerungsschichten verteilt vor, betont Zufferey. Aber es gebe Risikofaktoren, wie zum Beispiel den finanziellen Druck. Generell sei die Corona-Pandemie für Betroffene eine schwierige Zeit: «Für Opfer häuslicher Gewalt ist es widersprüchlich zu hören, ‹Bleiben Sie zu Hause, um Leben zu retten›. Denn sie müssen raus, um sich und ihre Kinder zu retten.»

Alliance F

«Schweiz hat Aufholbedarf»

Gewalt gegen Frauen ist auch ein politisches Thema: «In der Schweiz gibt es grossen Aufholbedarf», sagt Sophie Achermann, Geschäftsführerin des Frauendachverbands alliance F. Femizide seien ein grosses nationales Problem. Die Anzahl der Tötungsdelikte habe sich in den vergangenen Jahren auf hohem Niveau stabilisiert. «Wir erwarten nun aktive Massnahmen von der Politik. Wir müssen in Prävention, Sensibilisierung und Opferhilfe investieren, um etwas verändern zu können», sagt Achermann. Es brauche zudem eine langfristige Strategie, um jeder Frau finanzielle Unabhängigkeit ermöglichen zu können.

Bist du oder ist jemand, den du kennst, von sexualisierter, häuslicher, psychischer oder anderer Gewalt betroffen?

Hier findest du Hilfe:

Polizei nach Kanton

Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz

Fachstelle Frauenberatung

Onlineberatung für Frauen (BIF)

Onlineberatung für Männer

Onlineberatung für Jugendliche

Frauenhäuser in der Schweiz und Liechtenstein

Zwüschehalt, Schutzhäuser für Männer

LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133

Pro Juventute, Tel. 147

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