«Gegen die soziale Verkümmerung» – Soll jeder Schweizer einen 200-Franken-Gutschein erhalten?

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«Gegen die soziale Verkümmerung»Soll jeder Schweizer einen 200-Franken-Gutschein erhalten?

Damit in Restaurants und Konzertsälen wieder mehr Betrieb herrscht, soll jede Person in der Schweiz einen Gutschein über 200 Franken erhalten. Die Forderung sorgt bei Experten und Politik für Diskussionen.

200 Franken als finanziellen Zustupf: Der Gutschein wäre in allen Restaurants und Kultureinrichtungen einlösbar.
Damit sollen einerseits betroffene Branchen unterstützt werden. Andererseits sollen die Leute dazu gebracht werden, wieder unter die Leute zu gehen.
«Andere haben es sich in ihrem heimischen Biotop so bequem eingerichtet, dass sie kaum noch rauswollen», schreibt der SonntagsZeitung-Redaktionsleiter.
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200 Franken als finanziellen Zustupf: Der Gutschein wäre in allen Restaurants und Kultureinrichtungen einlösbar.

20min/Taddeo Cerletti

Darum gehts

Ein 200 Franken-Gutschein zum Ende der Pandemie: Andreas Kunz, Redaktionsleiter der SonntagsZeitung, fordert in einem Meinungsbeitrag einen finanziellen Zustupf für alle Erwachsenen in der Schweiz. Der Bon – einlösbar in sämtlichen Restaurants, Bars, Konzerthäusern, Kinos und Clubs des Landes – soll einerseits die notleidende Gastro- und Kulturbranche unterstützen.

Andererseits soll er zur mentalen Gesundung beitragen, da sich laut Kunz viele nicht mehr unter die Leute trauten. «Selbst wenn sie geboostert sind, selbst wenn sie eine Maske schützt: Die Unsicherheit ist zu gross.» Andere hätten sich Zuhause derart bequem eingerichtet, dass sie kaum noch rauswollten und seien dabei sozial verkümmert, ohne es zu merken. «Es wäre der finanzielle Anschub, den es nach so langer Zeit bei vielen wohl schlichtweg braucht, um zurück ins Leben zu finden», so Kunz. Die Kosten von rund 1.2 Milliarden Franken bezeichnet er als «überschaubar».

«Muss Leute aus der Schockstarre holen»

Dass viele Leute Angst vor der Rückkehr ins soziale Leben hätten, bestätigt Andreas Faller, Berater in gesundheitspolitischen Fragen. «Es ist daher absolut essentiell, dass man sich überlegt, wie man diese Menschen aus der Schockstarre und zurück ins Leben bringt.» Zunächst müsse die Wissenschaft durch eine evidenzbasierte Kommunikation den Leuten die Angst vor Corona nehmen. «Bisher hat man oft das Worst-Case-Szenario als Fakt präsentiert und die Leute damit verunsichert.»

In der Bevölkerung habe das zu einem «psychologischen und sozialen Kollateralschaden» geführt, sagt Faller. In Politik und Gesellschaft sei diese Herausforderung noch viel zu wenig diskutiert worden. «Die Idee eines Gutscheins ist daher durchaus interessant und Massnahmen in diesem Sinn müssten diskutiert werden.» Momentan dürfte es wohl aber noch zu früh sein: «Stand jetzt würden viele der verunsicherten Menschen den Gutschein beiseite legen.»

Ermässigungen für ehemalige Stammgäste

Vor allem für die risikoaverse Gruppe von Personen komme ein solcher Gutschein zum jetzigen Zeitpunkt zu früh, sagt auch Soziologie-Professorin Katja Rost. «Diese Leute, die zu Hause geblieben sind, neue Routinen entwickelt und sich auch daran gewöhnt haben, brauchen mehr Gewissheit, dass nichts passiert.» Diese Gewissheit fehle derzeit noch. «Prinzipiell können Anreize wie der Gutschein aber eine Variante sein, um den Leuten Kultur wieder näher zu bringen.»

Statt vom Bund sollten die Anreize jedoch von den Betreibern selbst kommen, sagt Rost. «Beispielsweise sollten ehemalige, regelmässige Opernbesucher Ermässigungen beim nächsten Besuch erhalten. Oder ehemalige Stammgäste in Restaurants, Saunas, Schwimmbädern oder Fitnesscentern.»

Schaffung neuer Ungerechtigkeiten?

Der Dachverband der Schweizer Kulturschaffenden, Suisseculture, begrüsse Initiativen, die zur Ankurbelung von Wirtschaft und Kultur dienten, sagt Geschäftsleiter Alex Meszmer. «Solche Gutschein-Aktionen sind sicherlich sinnvoll.» Die bestehenden Unterstützungsmassnahmen durch Bund und Kantone brauche es jedoch weiterhin. «Die Situation hat sich seit letztem Herbst nicht verbessert, im Gegenteil.» Zwei Drittel der Akteure im Kultursektor seien auch 2022 auf Unterstützung angewiesen. Damit die Branche auf eigenen Füssen stehen könne, gebe es nur einen Weg: «Die Pandemie endet und das Virus verschwindet.»

In der Politik fällt die Gutschein-Forderung hingegen durch: «Es ist eine Augenwischerei, wenn man denkt, mit einem Gutschein seien die Probleme im Kulturbereich gelöst», sagt etwa Grünen-Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber. Unterstützungsmassnahmen sollten dort geleistet werden, wo es nötig sei – etwa bei den finanziell Schwächsten. «Mit einem Gutschein wird nicht die Normalität einkehren, dafür braucht es Zeit», so Huber. Auch Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter findet: «Mit einem Gutschein werden nur neue Ungerechtigkeiten geschaffen, indem andere Branchen benachteiligt werden.»

FDP-Nationalrat Marcel Dobler bezeichnet die Gutschein-Idee als «absurd»: «Sobald die Corona-Massnahmen für beendet erklärt werden und keine Zertifikatspflicht mehr gilt, werden die Leute wieder in Restaurants und Kultureinrichtungen strömen.» Zudem könne man mit einem Gutschein nicht die vorherrschende Unsicherheit bekämpfen. «Mit dem Geld kann man sicher Gescheiteres anstellen», so Dobler.

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