Ist die Schweiz international rückständig?

Livetickeraktualisiert am Dienstag, 1. September, 2020

Live aus BernStéphane Rossini beantwortet Leser-Fragen zum Vaterschaftsurlaub

Der Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen beantwortet Leserfragen zum Vaterschaftsurlaub. Um 12 Uhr live im Ticker und im Stream!

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Dienstag, 01.09.2020

Mit diesem optimistischen Ausblick beendet Waldmeier den Live-Talk zum Vaterschaftsurlaub. Eine Zusammenfassung des Gesprächs folgt in Kürze auf 20min.ch Herzlichen Dank fürs Zuschauen und bis zum nächsten Mal!

Hoffen Sie, dass der Impfstoff bald da ist?

Ja, diese Hoffnung haben wir alle, in der Politik, der Verwaltung und in der Wirtschaft. Wir müssen diesen Impfstoff schnell finden, sonst kommen riesige Probleme auf uns zu. Zum Glück sind wir damit nicht allein, die ganze Welt ist betroffen. Als BSV-Direktor will ich nicht zu pessimistisch sein und der Bevölkerung klar sagen: Wir können die Leistungen bezahlen, das ist für uns das Wichtigste.

Gehen wir noch einmal zurück zur Corona-Krise. Wie hart hat der Lockdown die Sozialwerke getroffen?

Es ist sehr, sehr schwierig, hier akkurate Schätzungen zu machen. Beim BSV haben wir einige Schätzungen zuhanden des Bundesrats gemacht. Es ist klar: Die Situation wird dieses Jahr und wohl auch 2021 und 2022 noch schwierig sein. Wir hoffen, dass sich die Konjunktur danach erholt. Wir stellen halbjährlich Schätzungen an.

Man muss aber auch klar sagen: Die Renten wie die AHV, IV oder Ergänzungsleistungen sind nicht in Gefahr. Wir können diese Leistungen noch jahrelang bezahlen, das ist sehr wichtig. Die Bevölkerung muss Vertrauen in dieses System haben. Die Sozialversicherungen in der Schweiz sind solid.

Klar ist aber schon, dass die Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sinken werden. Die Konjunktur muss nach 2022 wieder anziehen. Dafür gibt es bereits positive Anzeichen. Sollte das Virus langfristig bleiben, wird es aber schwieriger.

Die Initiative, die vier Wochen Ferien verlangt, könnte aber noch zur Abstimmung kommen. Würde das einfach das Doppelte kosten?

Ja. Aber so läuft das, es gab die Initiative, das Parlament entschied sich für den Gegenvorschlag als Kompromisslösung. Wird dieser abgelehnt, ist es wahrscheinlich, dass wir über die Initiative auch noch abstimmen.

Was passiert, wenn der Urlaub abgelehnt wird?

Dann müssten wir vielleicht noch die Volksabstimmung zur Abstimmung bringen, wenn das Initiativkomitee das will. Andernfalls wäre das Thema wohl für ein paar Jahre erledigt, so ist das in der Schweiz.

Weiss man, wie viele Väter heute von ihren Firmen schon Urlaub bekommen?

Nein, dazu gibt es keine Statistik, das wissen wir nicht.

Bekommen nur leibliche Väter oder auch Adoptivväter Urlaub?

Die Adoptivväter erhalten keinen Urlaub.

Könnte das noch ausgeweitet werden?

Das wurde im Parlament vermutlich diskutiert, aber jetzt wurde es so beschlossen.

Wie gross ist der Verwaltungsaufwand?

Es betrifft pro Jahr ungefähr 90'000 Bezüge. Das ist nicht sonderlich viel Arbeit.

Gibt es eine Schätzung, was das kostet?

Vielleicht zwei oder drei Prozent der Ausgaben.

Gegen die zwei Wochen Urlaub wurden von rechter Seite und von Gewerbeverbänden das Referendum ergriffen, es handle sich um Gratisferien für wenige. Ist das so?

Nein. Wie gesagt, die Leistungen kosten 230 Millionen Franken pro Jahr, das können wir gut stemmen. Es ist ausserdem ein Vorteil für KMU: Ohne einen gesetzlich geregelten Vaterschaftsurlaub können sie ihren Mitarbeitern oft keinen Urlaub anbieten. Das steigert die Attraktivität der Schweizer KMU.

Das Referendum ist keine schlimme Sache, das ist gesund für die Demokratie, so funktionieren die Schweiz und ihre Institutionen. So könnnen wir diese Leistungen diskutieren und alle Meinungen anhören.

Magdalena Büsser fragt: Weshalb kann man nicht einfach den Mutterschaftsurlaub um zwei Wochen verkürzen, um die Kosten einzusparen? Nach 12 Wochen seien die meisten Mütter so oder so nicht mehr am stillen.

Diese Leistungen sind das Ergebnis eines politischen Verfahrens. Die Entscheidung, worüber wir abstimmen, ist gefallen. Wir können heute nicht mehr sagen, dass wir den Müttern zwei Wochen wegnehmen. Das ist nicht vorgesehen, weder in der Initiative noch im Gegenvorschlag. Die Mutterschaftsversicherung hat in der Schweiz eine lange Geschichte, 40 bis 50 Jahre. Da gab es viele politische Kämpfe. Der Vaterschaftsurlaub soll sich nicht gegen die Mutterschaftsversicherung richten, es ist eine zusätzliche Leistung.

Wir haben am Anfang von der Familienpolitik gesprochen. In dem Bereich haben wir auch gesehen, dass die Schweiz oft nur das Minimum macht. Die Erwartung der Bevölkerung ist, dass wir mehr machen, nicht, dass wir Väter gegen Mütter ausspielen.

Sabine Meier hat sich bewusst dazu entschieden, keine Kinder zu haben. Weshalb erhält sie keine Unterstützung, sondern bezahlt für die Kinder der anderen?

Sie erhält kein Geld für Kinder, da sie keine hat. Aber sie erhält Geld über die Bildung, den ÖV und andere Sozialleistungen. Jeder Bereich der Politik hat Leistungen, von denen nicht alle Schweizer profitieren. So ist das organisiert, es gibt kein Grundeinkommen in der Schweiz. Wenn wir pensioniert sind, erhalten wir eine Rente, wenn wir Kinder haben werden wir da finanziell unterstützt über Familienzulagen oder bei der Finanzierung eines Krippenplatzes. Es ist immer so, dass nicht alle Leute alle Leistungen des Staates erhalten. Wir können das nicht anders machen.

Die Leser hatten auch viele kritische Fragen, etwa: Wer soll das bezahlen gerade in Zeiten von Corona?

Das wird über die Erwerbsersatzordnung (EO) finanziert. Die Kosten belaufen sich ungefähr auf 230 Millionen Franken pro Jahr, das ist nicht so viel, etwa im Vergleich zur AHV, die 40 Milliarden pro Jahr kostet. Um diese 230 Millionen Franken zu finanzieren, werden wir die Beiträge um 0,05 Prozent erhöhen müssen. Heute bezahlen wir 0,45 Prozent, danach sollen es 0,5 Prozent sein. Auf 1000 Franken ist das eine Erhöhung von 50 Rappen, welche von Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu gleichen Teilen finanziert werden. Bundesrat und Parlament sind überzeugt: Das ist finanzierbar, die Schweiz ist reich genug, um sich das leisten zu können. Die Erhöhung stellt auch keine Gefahr für Unternehmen dar.

Wird der Urlaub bei Zwillingen verdoppelt?

Nein, es gibt immer nur zwei Wochen Urlaub.

Leser Tim Graf wird im Dezember Vater. Wird er bei einem Ja schon profitieren können?

Nein, leider für ihn tritt der Urlaub erst im Januar 2021 inkraft.

Eine Leserin möchte wissen, was der Vaterschaftsurlaub in Sachen Gleichstellung bringt. Werden Lohnungleichheiten vermindert?

Was es bringt, ist einerseits, dass der Vater eine wunderschöne Gelegenheit erhält, mit seinem Kind Zeit zu verbringen. Wir dürfen das nicht unterschätzen. Am Anfang des Lebens ist es sehr wichtig, dass die Eltern da sind. Heute sind viele Väter frustriert, dass sie nach zwei Tagen wieder zur Arbeit müssen. Es ist wichtig, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Lösungen der Unternehmen zu reduzieren. Eine oder zwei Wochen Urlaub sind heute selten. Der Lohn ist mit dem Vaterschaftsurlaub garantiert, die Väter erhalten 80 Prozent des Lohnes während diesen zwei Wochen.

Väter könnten diese Ferien innerhalb von sechs Monaten beziehe. Eine Leserin hat das mit dem schwedischen Modell verglichen: Dort hat man 16 Monate, die man bis zum 8. Lebensjahr des Kindes unter den Eltern aufteilen kann. Was sind die Vorteile eines solchen Modells?

Ich möchte nicht über Vor- und Nachteile sprechen. Es ist eine ganz andere Vision, die dahintersteht. In Schweden und anderen Ländern denkt man die Familienpolitik ganz anders als in der Schweiz. Hier wird die Familienpolitik oft als Privatsache angesehen, in anderen Ländern ist das eher eine öffentliche Politik. In der Schweiz war es immer ein Kampf, bei den Familienzulagen oder der Finanzierung der Krippen und jetzt auch beim Vaterschaftsurlaub. Die Gegner finden, zwei Wochen seien schon zu viel. Es ist nicht einfach, hier Kompromisse zu finden, aber wir haben jetzt eine Lösung.

Sie haben es angesprochen: Eine Mutter erhält 14 Wochen, der Vater bei einem Ja 2 Wochen. Es gibt Menschen, die finden, ein gemeinsamer Elternurlaub wäre sinnvoller. Ein Leser spricht von einer Bevormundung aus der Politik. Wäre die Elternzeit ein interessantes Modell?

Ja, das wäre sie. Doch so ist es in der Politik heute nicht. In diesem Bereich gibt es sehr viele Modelle. Wir dürfen nicht vergessen: Den Anfang der Diskussion bildete die Volksinitiative für vier Wochen Vaterschaftsurlaub, jetzt haben wir eine Lösung gefunden mit zwei Wochen. Natürlich müssen wir aber auch nach der Abstimmung weitere Überlegungen zu den verschiedenen Modellen anstellen.

Eine Leserin findet, zwei Wochen Urlaub seien ein Witz. Ist das nicht zu kurz?

Das ist eine politische Beurteilung. Es gab die Initiative, welche vier Wochen verlangte. Wir schaffen in der Schweiz Kompromisse, jetzt haben wir den Vorschlag von zwei Wochen. Zu sagen, zwei Wochen seien ein Witz, finde ich aber übertrieben. Für die betroffenen Personen ist das sehr wichtig. Heute bekommen Väter in der Regel nur einen oder zwei Tage Ferien. Der Schritt hin zu zwei Wochen ist sehr wichtig, auch für die Beziehungen zwischen dem Vater und dem Kind. Damit kann auch eine Ungleichheit zwischen Müttern und Vätern verringert werden. Dieser Fortschritt ist nicht zu unterschätzen.

Die Leser haben viele Fragen an Bundesrat Berset gestellt. Diese stellen wir jetzt Ihnen. Ein Leser wollte etwa einen Vergleich zum Ausland machen: In anderen Ländern hätten die Väter viel mehr Urlaub als in der Schweiz. Ist unser Land international rückständig?

Ja, das ist so. In der Schweiz haben wir immer wieder Probleme mit der Familienpolitik. Sehr lange haben wir Familienpolitik nur über die Familienzulagen gemacht. Dann haben wir mit einem Impulsprogramm die Krippen entwickelt. Das war Sache von Kantonen, Gemeinden und Privatorganisationen. 2001 kam der Bund dann mit dem Impulsprogramm. Jetzt entwickelt sich die Familienpolitik noch einmal einen kleinen Schritt weiter. Es ist aber schon so: Im Vergleich mit anderen Ländern steht die Schweiz oft nicht gut da. In unserem föderalistischen Land liegen die Kompetenzen bei den Kantonen, was es erschwert, eine einheitliche Lösung zu finden.

Profitieren vor allem Hochqualifizierte von den jetzigen Regelungen?

Ja. Deshalb ist es jetzt wichtig, eine einheitliche Regelung für das ganze Land zu finden.

Sie sind selber Vater. Hätten Sie sich damals einen Vaterschaftsurlaub gewünscht?

Es ist schon so, ich konnte aufgrund des Berufs nicht immer präsent sein nach der Geburt. Ein Ziel des Vaterschaftsurlaubs ist klar eine bessere Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie. Das ist nicht einfach. Ein weiteres Ziel ist es, die Ungleichheiten auszugleichen, dass einige Väter mehrere Tage oder sogar Wochen Urlaub erhalten, die grosse Mehrheit aber höchstens einen oder zwei Tage. Diese Ungleichbehandlung geht heute nicht mehr.

Der Live-Talk beginnt

Daniel Waldmeier, Leiter des Ressorts Politik & Gesellschaft, stellt Stéphane Rossini und die bevorstehende Abstimmung kurz vor und eröffnet die Fragerunde.

Die Schweiz ist in einer Corona-Krise. Die Wirtschaft ist historisch eingebrochen, die Einnahmen der Sozialwerke brechen ebenfalls ein. Genau jetzt will die Schweiz ein neues Sozialprojekt. Kommt die Abstimmung zum falschen Zeitpunkt?

Ich glaube nicht. Die Geburt eines Kindes ist ein wichtiges Ereignis und eine schöne Sache für Mütter wie für Väter. Die letzten Jahrzehnte hat die Gesellschaft sich start verändert. Die Erwartungen der Väter sind gross. Wir müssen diesen Erwartungen gerecht werden, deshalb wurde die Volksinitiative eingereicht, die vier Wochen Vaterschaftsurlaub gefordert hat. Das Parlament hat im Gegenvorschlag zwei Wochen beschlossen.

Die gesellschaftliche Entwicklung ist sehr wichtig, man kann die Erwartungen der Väter verstehen. Wir können auch nicht einen Vergleich zwischen dem Vaterschaftsurlaub und Instrumenten wie der AHV und der IV machen. Die Sozialversicherungen sind sehr gut strukturiert. Klar, die Corona-Krise bringt viele Probleme mit sich. Dafür erarbeiten wir Beamten Lösungen. Für den Vaterschaftsurlaub haben wir eine ganz andere Lösung, da besteht kein Zusammenhang zur Corona-Krise oder zum Erwerbsersatz für Selbstständige.

Der Live-Talk beginnt um 12 Uhr

Um 12 Uhr beantwortet Stéphane Rossini, SP-Politiker und Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen, die Fragen der 20-Minuten-Leser zum Vaterschaftsurlaub. Ursprünglich war ein Live-Talk mit Bundesrat Alain Berset vorgesehen, dieser musste aber kurzfristig absagen.

Rossini führt das Bundesamt für Sozialversicherungen seit dem 1. Dezember 2019. Der SP-Politiker war zwischen 1999 und 2015 Mitglied des Nationalrats und sass unter anderem in der Geschäftsprüfungskommission und in der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit. 2015 amtete er als Nationalratspräsident.

Die Volksabstimmung über das Referendum zum Vaterschaftsurlaub findet am 27. September statt. Väter sollen innerhalb von sechs Monaten ab Geburt eines Kindes zwei Wochen bezahlten Urlaub beziehen können. Finanziert werden soll der Vaterschaftsurlaub wie die Mutterschaftsentschädigung über die Erwerbsersatzordnung (EO). Dies sieht der indirekte Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Für einen vernünftigen Vaterschaftsurlaub – zum Nutzen der ganzen Familie» vor. Dagegen ist das Referendum ergriffen worden.