Political Correctness extrem?Super-Woke nerven selbst Antirassisten und People of Color
Die Woke-Szene schliesst Personen wegen Hautfarbe, Frisur oder Meinung aus – im Namen der Anti-Diskriminierung. Das ärgert zunehmend auch gemässigte Linke.
Darum gehts
Woke heisst soviel wie aufgeweckt, wach. Wach genug, um Ungerechtigkeiten und Diskriminierung zu entdecken, etwa unter dem Stichwort Antisemitismus, Rassismus, Sexismus oder Umweltzerstörung. Doch es kommt auch vor, dass, wer woke ist, andere ausgrenzt.
Fast im Wochentakt werden Meldungen wie diese publik: Eine Sängerin darf wegen Rastalocken nicht an Fridays-for-Future-Demonstration auftreten. «Es tut uns sehr leid», wurde Ronja Maltzahn von den FFF-Organisatoren in Hannover beschieden, aber «weisse Menschen sollten keine Dreadlocks tragen, da sie sich einen Teil einer anderen Kultur aneignen, ohne die systematische Unterdrückung dahinter zu erleben.» Auch an weiteren FFF-Demos heisst es: «Wir bitten weisse Menschen, keine Dreads zu tragen oder diese zu überdecken.»
Oder eine Meldung wie diese: Von einem Anlass in der Berner Dampfzentrale, so berichtete die «Sonntags-Zeitung», durften Weisse nicht teilnehmen. Oder dann jüngst diese Nachricht: Die 95-jährige Philosophin Carola Meier-Seethaler wurde von den Organisatoren einer feministischen Ausstellung ausgeladen, weil sie darauf bestand, Geschlecht in erster Linie biologisch zu definieren.
«Ich frage mich: Was soll das?»
Die Aargauer Grossrätin Maya Bally (Mitte) reagierte darauf mit einem Tweet: «Blüten der Cancel Culture. Wenn Rücksichtnahme übertrieben wird.» Auch die Politikerinnen Marianne Binder und Christina Bachmann-Roth stimmten ihr zu.
«Solche Vorfälle befremden mich», sagt Bally. Sie lehne Ausgrenzung und Verunglimpfung von Minderheiten konsequent ab, Integration und der Kampf gegen Diskriminierung seien für sie wichtige Themen. «Doch jetzt ist man politisch so korrekt, dass man schon wieder inkorrekt wird und Leute ausgrenzt, weil sie ein angeblich falsches Wort benutzen oder die falsche Frisur tragen. Ich frage mich: Was soll das?» Da fühle sie sich als Angehörige der Mehrheit ausgeschlossen. «Man will überkorrekt sein, es geht fast schon ins Lächerliche. Und es hat auch etwas Anbiederndes.»
Öffentlicher Widerspruch in solchen Fällen gebe es wenig. Bally vermutet: «Die meisten Kritiker haben Angst, in die falsche Ecke gestellt zu werden und als Mensch dazustehen, der andere diskriminiert.» Wenn es Kritik gebe, dann von Rechtskonservativen, die tatsächlich oft an der Grenze des guten Geschmacks politisierten. «Dem kann ich dann auch nicht zustimmen.»
Bei der Bevölkerung gebe es vermutlich zwei Arten der Reaktion darauf, sagt Bally: «Die einen gehen in Totalopposition, die anderen werden verunsichert und wissen nicht mehr, was sie noch sagen dürfen.»
«Dieses Weltbild hat etwas Autoritäres»
Mitte-Nationalrätin Marianne Binder findet: «Meine Parteikollegin Maya Bally hat es noch massvoll ausgedrückt.» Dass die Arbeit einer hochverdienten Wissenschaftlerin wegen einer als falsch empfundenen Ansicht totgeschwiegen werde, sei «schlicht beleidigend und diskriminierend» – ausgerechnet von einem Gremium, das sich feministisch nenne.
«Die Leute, die Cancel Culture betreiben, legen einfach eine Schablone über alles und schneiden ab, was nicht in ihr eigenes Weltbild passt. Dieses Vorgehen hat etwas Autoritäres. In einer autoritären Denkkultur wird alles gestrichen, was anders ist», so Binder.
Wie kommt es, dass gerade eine Bewegung, die gegen Rassismus und Diskriminierung kämpft, andere ausschliesst? In den sozialen Medien wird die übereifrige Untergruppe der Woke-Bewegung mit «Woko Haram» geschmäht. Dies in Anlehnung an die nigerianische Terrormiliz Boko Haram. Der Subtext: Die Super-Woken seien in ihrem Kampf für politische Korrektheit selber extrem.
Auch People of Color reagieren mitunter irritiert. Beispielsweise die im Tessin wohnhafte Isabel Lunkembisa (siehe Box), die mit ihrem besten Freund den Anlass in der Dampfzentrale besuchen wollte – was aber nicht möglich war, da er weiss ist.
«Weisse können nicht für mich sprechen»
Anna Rosenwasser, LGBTQI-Expertin und feministische Autorin, verteidigt hingegen die Massnahmen, die andere als «übertriebene Rücksichtnahme» bezeichnen. Sie wisse aus der Literatur und vom persönlichen Austausch, dass sich Angehörige der betroffenen Minderheiten diese Rücksichtnahme wünschen. Wer darauf beleidigt reagiere, wie etwa eine weisse Sängerin mit Dreadlocks, die von einer Demo ausgeladen wird, sei nicht bereit, die eigenen Gewohnheiten und Ansichten zu überdenken und sich auf einen Diskurs einzulassen. «Man stellt dann das Ego in den Vordergrund, doch es wäre nötig, dass wir es zugunsten einer offenen Debatte in den Hintergrund stellen», sagt Rosenwasser.
Auch die Ausladung der Philosophin, die das Geschlecht als angeboren bezeichnet, kann Rosenwasser verstehen: «Es ist richtig, dass die extrem verletzliche Minderheit von trans Menschen geschützt wird.»
Die Dampfzentrale in Bern, die einen Anlass nur für dunkelhäutige Menschen veranstaltet hat, schreibt auf Anfrage von 20 Minuten, dass sie seit Jahren daran arbeite, eine «rassismussensible und rassismusärmere» Institution zu werden. Die so genannten Safe Spaces seien ein mögliches Mittel dazu. Gleichzeitig verstehe sie sich als lernende Organisation, die «nicht den Anspruch hat, alles richtig zu machen oder alle Antworten zu haben».
Auch Giulia Reimann, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR), verteidigt die Foren für gewisse Personengruppen. «Diese Räume sollen einen geschützten Rahmen erlauben, in dem sich Leute, die potenziell Rassismus-Erfahrungen gemacht haben, sich ausdrücken und austauschen können, ohne ihre Erfahrungen erklären zu müssen.»
«Zur Religion verkommen»
Bist du oder ist jemand, den du kennst, von Rassismus betroffen?
Hier findest du Hilfe:
Beratungsnetz für Rassismusopfer
GRA, Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143