Psychische GesundheitUm Suizide abzuwenden – Fachleute fordern 100 Millionen für Jugendliche
In einem offenen Brief fordern Fachverbände die Politik auf, in grossem Stil in die psychische Gesundheit der Jugendlichen zu investieren. Werde das Geld nicht schnellstmöglich gesprochen, würde das «uns allen schaden», warnt ein Experte.
Darum gehts
Jugendliche sind durch die Pandemie psychisch belastet.
Fachverbände fordern darum 100 Millionen Franken, um Präventions-Angebote im Bereich der psychischen Gesundheit ausweiten zu können.
SP-Nationalrätin Sandra Locher Benguerel unterstützt die Anliegen – und fordert den Bundesrat auf, zu handeln.
Die Politik dürfe nicht warten, bis die Zahl der Suizide zunimmt, bevor das Thema der psychischen Gesundheit auf die politische Agenda komme, heisst es in einem offenen Brief, der am Dienstag an alle Parlamentarier und Parlamentarierinnen verschickt wurde.
Absender des Briefes sind drei Fachorganisationen: Das Sorgentelefon «Tel 143 - Dargebotene Hand», der Fachverband Public Health Schweiz und die Stiftung Pro Mente Sana, die psychisch beeinträchtigte Menschen vertritt.
Hintergrund des offenen Briefs
Studien belegen, dass die psychische Belastung der Jugendlichen durch die Pandemie massiv zugenommen hat. Zudem vermeldete die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften im März, dass rund ein Viertel der Studierenden von depressiven Symptomen betroffen seien – das sind dreimal soviel als vor der Pandemie.
Die Organisationen werfen der Schweizer Politik nun vor, mit der psychischen Gesundheit der Jugendlichen fahrlässig umzugehen, da diesbezüglich kaum Massnahmen ergriffen worden sind.
«Die Politik muss jetzt finanzielle Mittel bereitstellen, damit die psychischen Leiden der Jungen gelindert werden», sagt Roger Staub, Geschäftsleiter der Pro Mente Sana. Damit sollen bereits bestehende Kampagnen und Angebote ausgeweitet werden. So sollen zum Beispiel Erste-Hilfe-Kurse für die psychische Gesundheit (20 Minuten berichtete) für Eltern, Jugendgruppenleitenden und Lehrpersonen günstiger angeboten werden, damit sie psychische Belastungen erkennen und Jugendlichen helfen können.
Konkret fordert Roger Staub dafür 100 Millionen Franken. Zu utopisch? Nein, findet er, denn: «Allein für die Selbsttests vergab der Bundesrat eine Milliarde Franken. Dann soll ihm die psychische Gesundheit der Jugendlichen mindestens 100 Millionen wert sein.»
Corona sei noch nicht vorbei
Sabine Basler, Geschäftsführerin des Sorgentelefons «Tel 143 - Dargebotene Hand», ist Mitunterzeichnerin des Briefes und betont, dass die Fachorganisationen bewiesen hätten, dieser Aufgabe gewachsen zu sein. «In der ersten und zweiten Corona-Welle mussten und konnten wir unsere Kapazitäten kurzfristig um bis zu 14 Prozent erhöhen», so Basler. «Auch jetzt ist der Bedarf noch gross, unsere Zusatzschichten sind gut ausgelastet. Corona und seine Folgen sind noch nicht vorbei.» Deshalb soll Geld zur Verfügung gestellt werden, damit alle Organisationen, die Jugendliche und Erwachsene mit Zuhören und Online-Beratung helfen, ihre Angebote auch nach den Lockerungsmassnahmen ausbauen können.
Würden die finanziellen Mittel nicht jetzt zugesprochen werden, befürchtet Roger Staub, dass viele Jugendliche den «Start ins Leben» verpassen. «Dies würde schlussendlich uns allen schaden. Denn wenn viele Jugendliche wegen ihren psychischen Problemen ihre Lehre abbrechen müssen, schadet dies auch der Schweizer Wirtschaft», so Staub. Prävention sei günstiger als die Therapie.
Nicht der erste Appell
Bereits Ende April veröffentlichte die Pro Juventute einen ähnlichen Appell, der inzwischen von mehreren Politikerinnen und Politikern unterstützt wird – unter anderem von SP-Nationalrätin Sandra Locher Benguerel (siehe Interview unten). Sie ist Mitglied der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats, die den Bundesrat in einem Postulat dazu auffordert, «konkrete Massnahmen zur Wahrung der psychischen Gesundheit und zur Versorgungssicherstellung der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufzuführen.»
«Das Thema ist in der Politik angekommen»

SP-Nationalrätin Sandra Locher Benguerel ist die Initiantin des Postulats «Psychische Gesundheit unserer Jugend stärken».
PrivatFrau Locher Benguerel, was halten Sie vom offenen Brief der Pro Mente Sana, Dargebotenen Hand und Public Health Schweiz?
Sandra Locher Benguerel: Ich unterstütze diese Forderungen und die der Pro Juventute vollumfänglich. Ich werde im Namen unserer Kommission noch in dieser Session dem Nationalrat einen Vorstoss zur Stärkung der psychischen Gesundheit unterbreiten. Das Thema ist in der Politik angekommen und unsere Kommission hat den Handlungsbedarf erkannt.
Der Geschäftsleiter der Pro Mente Sana fordert bis zu 100 Millionen Franken. Wie realistisch ist diese Summe?
Aufgrund der Faktenlage ist diese Forderung durchaus realistisch. Dabei möchte ich betonen, dass es eine nachhaltige Finanzierung der Unterstützungsangebote braucht, da sich die Auswirkungen der Coronakrise längerfristig bei den Jugendlichen abbilden werden.
Wie geht es weiter, wenn Ihr Postulat vom Rat gutgeheissen wird?
Dann stünde der Bundesrat in der Verantwortung, dringlich aktiv zu werden und zwar so, wie es in den beiden Appellen gefordert wird. Zum ersten Mal gäbe es dann im Bereich der psychischen Gesundheit eine erweiterte Steuerung und Koordination auf Bundesebene.
Hast du oder hat jemand, den du kennst, eine psychische Erkrankung?
Hier findest du Hilfe:
Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858
Hotline bei Angststörungen und Panik, Tel. 0848 801 109
Kinderseele Schweiz, Beratung für psychisch belastete Eltern und ihre Angehörigen
Verein Postpartale Depression, Tel. 044 720 25 55
Angehörige.ch, Beratung und Anlaufstellen
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
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