«Unhygienische Zustände»Unia will die Baustellen schliessen
Der Kanton Genf schliesst alle Baustellen, die Unia fordert weitere Schliessungen. Für das Gewerbe wäre das fatal, warnen Verbände.
Enge Baracken, in denen sich zu viele Menschen aufhalten, überlaufende Pissoirs, dreckige Toitois und weit und breit weder WC-Papier noch Seife oder Desinfektionsmittel: 20 Minuten erreichten in den letzten zwei Tagen Dutzende Nachrichten und Bilder von Bauarbeitern, die sich über die Zustände auf Baustellen beschweren.
«Die Aussage des Bundes, dass die Hygienemassnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus auf Baustellen problemlos eingehalten werden können, ist völlig realitätsfremd», schreibt ein Bauarbeiter. «Wir stecken uns hier gegenseitig an, gehen dann nach Hause zu unseren Familien und niemanden interessiert das», meint ein anderer. «Es ist beschämend», ein weiterer. Anstelle von Desinfektionsmittel stehe auf einer Baustelle ein Eimer mit einer «aggressiven roten Reinigungspaste», schreibt ein Bauarbeiter. «Die Leute stecken ihre Hände da rein, weil es keine Seife gibt.»
Unia fordert Schliessung weiterer Baustellen
Auch die Unia erhält derzeit unzählige Anfragen von Bauarbeitern: «Die Massnahmen des Bundes können an sehr vielen Orten nicht umgesetzt werden», sagt Serge Gnos, Kommunikationsleiter bei der Gewerkschaft. Neben den Hygiene- seien vor allem die Platzverhältnisse ein Problem: «Die Arbeiter fahren zu acht in einem Kleinbus auf die Baustelle, der Mindestabstand kann unmöglich eingehalten werden», sagt Gnos. Auch in den Pausen- und Besprechungsräumen seien oft viel zu viele Leute auf engem Raum. Das zeigen auch Bilder, die 20 Minuten erhalten hat.
Der Kanton Genf hat am Mittwoch entschieden, sämtliche Baustellen zu schliessen. Die Unia fordert dasselbe für den Kanton Zürich, die Ostschweiz und Graubünden: «Die Bauarbeiter wollen diese unnötige Gefährdung von sich und der Gesellschaft nicht mehr hinnehmen. Sie fordern den Regierungsrat auf, endlich einzugreifen», heisst es in einer Mitteilung vom Mittwoch. Thomas Maag, Mediensprecher der Zürcher Baudirektion, sagt, die Regierung habe sich noch nicht mit der Petition befasst und halte sich derzeit an die Vorgaben des Bundes. Noch sei unklar, wann die Zürcher Regierung die Petition behandle.
«Für das Gewerbe wäre das fatal»
Die Lösung, die die Unia vorschlägt, kommt beim Gewerbe gar nicht gut an: «Das wäre für unsere Mitglieder eine Katastrophe», sagt Peter Baeriswyl, Direktor des Schweizerischen Maler- und Gipserunternehmenverbands. «Mehr als 90 Prozent der Aufträge in unserer Branche kommen von Privaten. Oft arbeiten Maler und Gipser allein oder in sehr kleinen Teams auf Baustellen, das Einhalten der Massnahmen ist überhaupt kein Problem.» Wenn aber sämtliche Arbeiten eingestellt werden müssten, sei das für sehr viele Unternehmen existenzbedrohend, sagt Baeriswyl.
Laut aktuellen Zahlen des Schweizerischen Baumeisterverbands (SBV) arbeiten in der Schweiz mehr als 220'000 Menschen im Baugewerbe. «Ihre Gesundheit und die Eindämmung des Virus gilt es mit Hygienemassnahmen und organisatorischen Anpassungen sicherzustellen», sagt SBV-Sprecher Matthias Engel. Nur wenn es gar keine andere Lösung gebe, sollen Baustellenschliessungen geprüft und in Absprache mit den Bauherren beschlossen werden.
«Der Bau ist eine wichtige Stütze der Volkswirtschaft. Mit einer undifferenzierten Schliessung aller Baustellen würden Tausende Arbeitsplätze und Lehrstellen gefährdet», sagt Engel. Eine Stilllegung sämtlicher Baustellen hätte laut Engel auch Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft: «Spitäler, Schulhäuser, Strassen und weitere wichtige Infrastrukturprojekte würden verzögert. Das vom Bundesrat beschlossene Vorgehen ist differenzierter und besser.»
Bund hat noch nichts entschieden
Eine der grössten Baustellen in der Schweiz ist derzeit diejenige am Flughafen Zürich. Die HRS Real Estate AG baut dort The Circle. Jeden Tag arbeiten bis zu 1300 Menschen auf der Baustelle. Hans Klaus, Sprecher von HRS, sagt: «Wir sind uns der Schwierigkeiten auf den Baustellen bewusst. Die Massnahmen des Bundes sind, wenn überhaupt, nur sehr schwierig umzusetzen. Trotzdem versuchen wir alles, um die Arbeiter zu schützen.» Die HRS könne nicht im Alleingang über eine Schliessung der Baustelle entscheiden: «Grundsätzlich muss dies die Bauherrin tun, in diesem Fall der Flughafen oder der Kanton Zürich.»
Klaus würde eine Reaktion der Behörden begrüssen. Er plädiert für einen Zwischenweg: «Die Behörden sollten rasch überdenken, auf welchen Baustellen die Massnahmen noch eingehalten werden können. Nur so können die Arbeiter genügend geschützt werden.» Ist dies nicht möglich, müssten laut Klaus die Bauherrin oder die Behörden eine Schliessung anordnen. So könnte laut Klaus die Verbreitung des Virus verlangsamt werden, ohne dass das Gewerbe komplett lahmgelegt werden müsste. Der Bund hat sich seit seiner Pressekonferenz am Dienstag nicht mehr zum Thema geäussert.